Reading the Library
Eine Ausstellung zu feministischen und de-kolonialen Ansätzen der Wissensordnung
Ob eine Sammlung von bedrucktem Papier oder ein Online-Archiv mit digitalen Dateien – Bibliotheken sind Schlüsselorte für Zugang, Aktivierung und Verbreitung von Wissen. Eine Bibliothek ist in der Regel ein hochgradig klassifizierter Raum, der Wissen formalisiert und in Kategorien ordnet – intellektuell wie auch räumlich. Die Ausstellung fragt nach den Methoden und Praktiken des Beschreibens, Benennens und Klassifizierens und richtet den Blick insbesondere auf den Bibliothekskatalog. Die Aufgabe des Bibliothekskatalogs ist es, vorhandene Inhalte in Form von Datensätzen zu repräsentieren und such- und auffindbar zu machen. Die Bibliothek ist daher ein Ort der strengen Organisation, Standardisierung und Disziplin. Die im globalen Norden verbreiteten Klassifizierungssysteme folgen typischerweise einem liberalen Ansatz, der auf Gleichheit oder Gleichartigkeit baut. Das Problem der Gleichheit jedoch ist ihre homogenisierende Annahme, dass das ein und dasselbe Modell universell anwendbar ist. Des Weiteren besteht die implizite Funktion einer Benennung darin, eine Sache von einer anderen abzugrenzen. Solche Abgrenzungen basieren von Natur aus auf bestimmten kulturellen Perspektiven – und führen zwangsläufig zu Verzerrungen, Ausschlüssen und Marginalisierungen.
Vor diesem Hintergrund und der Einsicht, dass die strukturellen Probleme des Beschreibens, Benennens und Klassifizierens in der Bibliothek nicht vollständig lösbar sind, schlägt die Bibliothekarin Emily Drabinski in ihrem Text «Teaching the Radical Catalog» (2008) vor, mehr Aufmerksamkeit darauf zu legen, diese strukturellen Unzulänglichkeiten transparent zu machen, zu vermitteln und mit den Bibliotheksbenutzer:innen zu diskutieren. Drabinskis Text ist Ausgangspunkt für die Ausstellung in der Stiftung Sitterwerk, die auf künstlerisch forschende Weise verschiedene Kulturen des Suchens und Findens sichtbar macht. Matthias Gabi (CH) greift dafür auf die Tradition historischer handgeschriebener Bibliothekskataloge zurück, indem er ein Verzeichnis von Werbeanzeigen in Ausstellungskatalogen erstellt. Delphine Chapuis-Schmitz (CH) nutzt die Bibliothek als Experimentierfeld und erarbeitet in der Ausstellung eine performative Lesung, die sie an der Finissage aufführen wird. Als ein zentrales Element der Ausstellung werden Eva Weinmayr (UK) und Lucie Kolb (CH) einen Syllabus entwickeln. Als ein Dokument, das zum Entdecken und Lernen in einem Bildungskontext anregt, zielt dieser Lehrplan darauf ab, die gesellschaftlich und historisch produzierten Ordnungen und Hierarchien aufzuzeigen, die Bibliothekskatalogen zugrunde liegen. Dieser Lehrplan wird im Laufe der Ausstellung wachsen und Gespräche mit Praktiker:innen und Kollektiven beinhalten, die derzeit an alternativen Modellen arbeiten. Sie schlagen de-koloniale und feministische Methoden vor, um normative Konzepte der Validierung, des Aufbewahrens und Zur-Verfügung-Stellens von Wissen zu verändern. Der Syllabus enthält Beiträge von Amanda Belantara (US), Emily Drabinski (US), Feminist Search Tools (NL), Infrastructural Manoeuvres (NL, BE), Élodie Mugrefya (Constant, BE), The Rewrite (CH), Nora Schmidt (AT), Femke Snelting (Constant, BE), Bibliothek Wyborada (CH).
Die Kunstbibliothek der Stiftung Sitterwerk verfolgt eine Vielfalt von Ansatzpunkten, die sich kritisch mit Wissenspraktiken in Bibliotheken beschäftigen. Zum einen arbeitet sie mit einer dynamischen Ordnung der Bücher mittels Radiofrequenz Technologie (RFID), die es Nutzer:innen erlaubt, die Bücher in den Regalen nach eigenem Gutdünken anzuordnen und umzusortieren, um Bezüge zwischen den Büchern herzustellen. Durch die Werkbank, ein sensitiver Tisch, der auf ihm abgelegte Bücher und Materialien erfasst und digital abbildet, ist es zudem möglich, die beiden Sammlungen der Kunstbibliothek und des Werkstoffarchiv in Beziehung zu setzen, thematisch zu verorten und mit eigenen Notizen, Bildern oder Kommentaren zu versehen. All diese Tools erlauben den Benutzer:innen, neue Zugänge zu den Inhalten zu schaffen, respektive zu verfolgen. In einem dreijährigen Projekt zur Weiterentwicklung des dynamischen Ordnungssystems und der Werkbank befragte die Stiftung Sitterwerk neue Möglichkeiten, alternative Zugänge zu Wissen im Bibliotheksraum zu etablieren. In diesem Rahmen beleuchtete die Veranstaltungsreihe «Finders Keepers» das Potential der Nutzer:innen für die Bibliothek. Die Workshopreihe «Kunst Produktion Sprache» richtete den Blick auf die Verschlagwortung und untersuchte die Möglichkeit eines ortsspezifischen Vokabulars. Die Veranstaltungen hinterfragten die Konstruktion von Ordnungssystemen und deren Einfluss auf die Wissensproduktion. Darauf aufbauend zielt die Ausstellung «Reading the Library» nun mit einer de-kolonialen, intersektionell feministischen Perspektive darauf, die Wissenspraktiken in Bibliotheken zu untersuchen und rückt insbesondere den Bibliothekskatalog in den Fokus.
Konzeption und Durchführung: Barbara Biedermann, Lucie Kolb und Eva Weinmayr
Mit Beiträgen von Amanda Belantara (US), Delphine Chapuis-Schmitz (CH), Emily Drabinski (US), Feminist Search Tools (NL), Matthias Gabi (CH), Infrastructural Manoeuvres (NL, BE), Constant (BE), The Rewrite (CH), Nora Schmidt (AT), Bibliothek Wyborada (CH)
Der Syllabus wird regelmässig erweitert und kann auf https://syllabus.radicalcatalogue.net eingesehen werden.
Eröffnung:
Finissage:
Die Ausstellung «Reading the Library» wird grosszügig unterstützt durch Kanton St.Gallen Kulturförderung / Swisslos, UBS Kulturstiftung, Ernst Göhner Stiftung, Steinegg Stiftung, Straubenzeller Fonds und Lienhard Stiftung.