Das Gespräch mit Martin Leuthold fand am 3. Dezember 2020 online statt. Die Veranstaltung war ursprünglich im Rahmen des zweitägigen Symposiums «Finders Keepers» im Oktober 2020 vorgesehen und musste aufgrund der Corona-Pandemie in den virtuellen Raum verlegt werden. Wir danken Martin Leuthold, ehemals Creative Director bei Jakob Schlaepfer AG St. Gallen, für seine Flexibilität und den spannenden Austausch. Unter dem Filter Finders Keepers finden Sie weitere Zusammenfassungen von ebenfalls in diesem Format durchgeführten Gesprächen.
Seit über 100 Jahren produziert die St. Galler Firma Jakob Schlaepfer AG Stoffe, die weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind. Die Kreationen von Jakob Schlaepfer inspirieren Couturiers, Architektinnen Architekten, Stoffliebhaberinnen und Stoffliebhaber auf der ganzen Welt. Erdacht, erprobt und realisiert werden die Stoffe nach wie vor in St. Gallen. Welche Rolle spielt das Archiv in dieser Branche, in welcher Saison für Saison «das Neue» über Erfolg und Misserfolg bestimmt?
Wir haben mit Martin Leuthold über seine Arbeit und seinen Bezug zum Archiv gesprochen. Leuthold kreierte mit seinem Team jährlich über 1’000 Entwürfe für Stoffe und hat ab den 1970er Jahren das Firmenarchiv mitaufgebaut. Er ist überzeugt, dass ohne Vergangenheit nichts Neues entstehen kann – das firmeninterne Archiv nimmt also im Schaffensprozess und der Kreation eine zentrale Rolle ein.
Das Gespräch mit Martin Leuthold fand in der Kunstbibliothek statt, und Leuthold führte uns Stück für Stück durch die Dutzenden Stoffmuster und Stoffmusterbücher, die er mitgebracht hatte – dass ein solches Gespräch mehr mäandert als ein Vortrag, und die Qualität, die daraus entsteht, wird auch in der folgenden Dokumentation ersichtlich.
Archive als Inspiration
Archive sind unsere Gedächtnisse, so Leuthold. Wir lernen von ihnen, ganz didaktisch, lassen uns aber auch einfach inspirieren. Gerade wer kreativ mit Archiven arbeite, so wie das Leuthold zu seinem eigenen Schaffensprinzip gemacht hat, solle nicht nur kopieren, sondern auch neu interpretieren, und um dies zu ermöglichen, sollten Archive möglichst direkt zugänglich, berühr- und erfahrbar sein. Gerade im Textilbereich sei dies unabdingbar. Stoff muss man spüren, seinen Faltenwurf oder seine Leichtigkeit «be-greifen». Dies führe mitunter in der Archivierung zu grossen Herausforderungen, so Leuthold, denn Textil sei in derart grossem Überfluss vorhanden, dass das Archivieren zum Problem werden könne. Üblicherweise führen Textilfirmen Folianten oder Musterbücher, in die kleine Referenzmuster eingeklebt sind. Sie sind wertvoll, man dokumentiert so Muster, Farben, Materialien, Drucktechniken –, aber die Muster sind schwierig zu gebrauchen, weil man sie nicht mehr anfassen und «animieren» kann.
Das textile Archiv
Wie Leuthold erklärte, ist Stoff primär ein Halbfabrikat, das heisst, es ist ein noch nicht fertig verarbeitetes Produkt, noch kein tragbares Kleidungsstück. St. Gallen hat sich in diesem Halbfabrikats-Bereich erfolgreich etabliert und blickt darin auf eine 800-jährige Textilgeschichte zurück. Immer schon war ein Grossteil der Stoffproduktion für den Luxusbereich bestimmt. Stets war die Produktion von viel Innovation geprägt: von Leinen über die Baumwolle zur Baumwoll-Stickerei und Maschinenstickerei bis heute zu Laser gearbeiteten und 3-D bedruckten Stoffen. Trotz all dieser Innovation übe sich St. Gallen in einer gewissen Zurückhaltung, weil man eben im Hintergrund stehe und noch kein fertiges Produkt zeigen könne – tatsächlich, im Verhältnis zum Renommee der Couturier und Fashionlabels ein komplettes Understatement, da stimmen wir Martin Leuthold zu.
Die Welt der Mode in all ihren Facetten, sie produziert einen Überfluss an Stoffentwürfen und -produktion und es entsteht der Eindruck, dass man immer das Gleiche sieht. Im Rückblick zeigt sich aber, wie wichtig ein gewisses Material oder eine Technik in einer bestimmten Zeit waren. So scheint eine Variation von Bordüren zunächst einfach eine Vielzahl von – eben ¬– Bordüren zu sein, doch bildet diese Fülle ebenso wie diverse mit Gold und Silber verzierten Stoffen die Vorlieben eines regional, national oder gar kontinental geprägten Geschmacks ab, wie er von den Stoffherstellern bedient wurde.
Das Firmenarchiv von Jakob Schlaepfer AG
In den 1950er Jahren hatte eine junge Mitarbeiterin die Archiv-Strategie der Firma mitgeprägt. Weil sie nach kurzer Anstellungszeit ein ausgesprochenes Verkaufstalent bewies, wurde sie von der Firma von ihren Sekretariatsarbeiten freigestellt und auf Verkaufsreisen geschickt, nach Japan und den Mittleren Osten. Sie hat die Musterbücher zwar befürwortet, wollte aber zusätzlich auch die Musterlaschen behalten, mit denen sie reiste und anhand derer sie Kollektionen vorstellte. So hat sie in den 1950er und 1960er Jahren begonnen, von den Kollektionen jeweils zwei der besagten Musterlaschen aufzubewahren. Bis dahin wurden diese vernichtet oder verschenkt, doch man sah sie nicht als wertvoll an.
Auf dieser Grundlage hat Martin Leuthold das Archiv für die Jakob Schlaepfer AG aufgebaut. Jeweils ein Exemplar der Musterlasche wurde nach Nummern einsortiert und zurückgelegt: eine Sammlung, die nicht dazu da ist, berührt, geschweige denn benutzt zu werden. Die zweite Sammlung mit den Duplikaten der Musterlaschen ist nach Genre oder Technik geordnet und ausdrücklich für den Gebrauch bestimmt: Kundinnen und Kunden und Mitarbeitende haben Zugang, man kann die Stoffe anfassen und sich inspirieren lassen. Für Martin Leuthold ist dies der zentrale Punkt für ein funktionierendes Archiv: «Es muss immer auch verführerisch sein». Man könne zwar viel über Mode sprechen, am Ende müsse man sie aber berühren können.
So ist es auch keine Überraschung, dass es bis jetzt kaum Bestrebungen gab, die Muster zu digitalisieren. Die aktuelle Situation hat zwar dazu geführt, dass die neusten Kollektionen auch digital abgelegt sind, sodass Kundinnen und Kunden die Möglichkeit haben, die Muster elektronisch anzusehen. Am Ende würden sie dann aber trotzdem um die Stoffmuster bitten.
Archive und Innovation
Für Leuthold ist der Archivbegriff stark mit demjenigen der Innovation verbunden. Darin sieht er auch die Stärke der Kulturgeschichte Europas. Mit seinen zahlreichen Museen und Archiven sei eine Grundlage für viele weitere kreative Innovationen geschaffen worden. Während seiner Präsentation ist uns aber der Innovationsbegriff auch noch in einem anderen Kontext aufgefallen, nämlich in Bezug auf die Techniken. Immer wieder erfand Leuthold alte Techniken neu oder regte dazu an, bestehende Maschinen für neue Resultate weiterzuentwickeln. So sind die Musterbücher auch eine sehr spannende Schau technischen Erneuerungen.
Ob er denn ein eigenes, Leuthold’sches Archiv pflege, fragen wir ihn. Sein privates Archiv, so Leuthold, bestehe aus einer Bibliothek mit Büchern zum Thema Mode, aus circa 800 Stoffen und einer umfangreichen Postkarten-Sammlung. Die Stoffe, von denen hier die Rede ist, hat er schon während seiner Lehrzeit zu sammeln begonnen und sie zwei Kriterien unterworfen: Es sollten Stoffe sein, von denen er dachte, «etwas in dieser Art würde man später nie mehr machen», und die Stoffstücke sollten mindestens 1.5 Meter lang sein, damit man sie später auch nochmals benutzen könne, gar etwas Kleines daraus herstellen könne. Auch hier zeigt sich wieder, dass Martin Leuthold einen sehr lebendigen Archivbegriff vertritt, denn auch für sein privates Archiv wünscht er sich, dass es irgendwann als Grundlage für weitere Inspirationen zur Verfügung stehen kann – sei dies als statische Sammlung in einem Museum oder als konsultierbares Konvolut.
Immer neu, immer den aktuellen Trends voraus – die Mode verlangt ihren Entwerferinnen und Entwerfer konsequent und unnachgiebig viel Gespür und Intuition ab. Nach dem Gespräch mit Martin Leuthold hat sich nicht nur gezeigt, wie wegweisend die Recherche oder das historische Wissen zu Technik, Ornamenten usw. auch für aktuelle Entwürfe von Stoffen oder Mode sein kann, es wurde uns auch bewusst welche Rolle das Archivieren dabei spielt. Es ist vielleicht nicht einmal das Archiv selbst, der Ort, die Schachteln, die hier wichtig sind. Sondern viel mehr noch die Personen, die das Archiv gestalten, die Entscheidungen, die sie treffen – allen voran die Mitarbeitenden mit ihrem Wissen über vielleicht vergessene Techniken, Maschinen, Designs mit denen man im Jetzt wieder komplett neue, faszinierende Entwürfe gestalten kann.