Die Frage zu stellen, was ein Archiv ist, erfordert Mut. Noch mehr Mut braucht es, ein Archiv aufzubauen oder zu leiten und die damit verbundene Zuständigkeit zu übernehmen und weiterzudenken. Der Begriff ist nicht geschützt, und, wie Ulrich Raulff 2016 herausgestellt hat: ‹Das Archiv ist eine politische Angelegenheit.› Es gehört zusammen mit Bibliothek und Museum zu den Institutionen, die damit befasst sind, das, was allgemein Kulturgut, kulturelles Erbe oder cultural property genannt wird, zu erwerben, zu erschliessen, zu bewahren und zu erforschen. Jede dieser Aufgaben ist in einen rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext und in Entscheidungsprozesse eingebunden, die über die unmittelbare Gegenwart hinausgehen und grosse Themen berühren, bei denen im Lokalen immer auch das Globale dazugehört: Geschichte, Ethnologie, Wissenschaft, Wirtschaft und Demokratie. Dazu gehören seit den letzten Jahren und gegenwärtig mit einer erhöhten Dringlichkeit vor allem Fragen der Digitalisierung, Systemkritik und Umsetzung struktureller Revisionen, der Zugänglichkeit für eine breitere Öffentlichkeit im Sinne kultureller Teilhabe und der Aktivierung der Bestände. Zu den Schrittmachern dieser Entwicklung auf multinationaler wie globaler Ebene, die aufgrund ihrer Geschichte zugleich ‹Keepers› und ‹Finders› sind, gehören Staatsarchive.
Es gibt einen Moment, ab dem Grundwissen zu Hintergrundwissen wird und sich der Abstraktionsgrad radikal verkleinert. Es ist der Moment, in dem entschieden ist, einer selbstständig formulierten Aufgabe forschend nachzugehen. Mit anderen Worten: weiter gehen zu wollen als das, was bereits bekannt, gewusst und publiziert ist. Wenn diese Entscheidung im Rahmen einer Veranstaltung oder mit Bezug zu einer Hochschule, einer Forschungseinrichtung oder einem Museum getroffen wird, hat sie mehr Gewicht. Vorworte von Dissertationen, Tagungsbänden sowie Ausstellungskatalogen und Anmerkungen in Aufsätzen und Papers werden anteilig genutzt, um das zu dokumentieren, worauf die Forschung aufbaut und was diese erst ermöglicht hat. Zumeist ist es eine Liste von Personen und Institutionen, denen gedankt wird. Die Autorinnen und Autoren stellen dabei entweder ausdrücklich oder implizit heraus, dass die Qualität von Forschung in einem Verhältnis dazu steht, wie Bestände erschlossen sind und wie ihre Anfrage betreut wurde. Dazu gehören konkrete Personen, ihr Wissen und Kompetenzen in Verbindung mit dem Interesse und ihrer Bereitschaft, sich auszutauschen und zu kooperieren. Wenn sich eine Bindung aufgebaut hat und die Konvention gelebt wird, externe Forschung zu sammeln und zu archivieren, gelangen die Ergebnisse als Belegexemplare oder in einer anderen Form der Dokumentation an die Institution und werden erfasst. In der Mehrheit der Fälle gibt es kein Konzept dafür, wie die Ergebnisse einer Recherche zu konkreten Werken und Einzeldokumenten, der ‹Mehrwert› autorbezogener Forschung, in eine Institution wie beispielsweise ein Archiv zurückfliessen können. Für diese Markierung von Grenzen in der Zuständigkeit, den Umgang mit Zeit und der Frage, wie Autorschaft repräsentiert wird, gibt es Gründe und Argumente. Es ist eine Realität, die abbildet, wie anteilig einseitig Forschung organisiert ist und vermittelt wird. Hierarchien des Wissens zwischen der Forscherin, dem Forscher und der ‹Infrastruktur› werden fortgeschrieben, ohne dass die Öffentlichkeit davon auf fruchtbare Weise Kenntnis nehmen kann. Das Sitterwerk ist mit seinen Archiven an Materialien und Büchern in der Nähe zur Kunstgiesserei und dessen Produktion in dieses Gebiet als Institution früh und grundständig anders eingestiegen. Aus dem Bedarf nach einem auf die Bedürfnisse abgestimmten Zugriff auf die Materialien und das darin gespeicherte Wissen, wurden Lösungen und Tools wie die Werkbank auf experimentelle Weise entwickelt. Das Sitterwerk kennzeichnet den Ansatz, nicht per se in bürokratischen Kategorien zu denken und zu handeln. Ordnungsmuster und Standards sind kein Selbstzweck, sondern nützliche Hilfsmittel, damit die Arbeit, der Alltag weitergehen kann.
In die gewachsenen Strukturen von Archiven ist nicht zuletzt durch Erfahrungen mit digitalen Möglichkeiten, dem reflektierten, professionalisierten Umgang mit Abhängigkeiten, einer Notwendigkeit, gesellschaftspolitische Themen in globaler, verbindlicher Verantwortung aufzuarbeiten und einem Bewusstsein für Ökonomien und die Verantwortung für Ressourcen Bewegung gekommen. Was braucht es an Institutionen, Forschenden, Tools, Ausschreibungen und Stellenprozenten, um zu anderen Dynamiken zu kommen: an solche, die in erster Linie den Inhalten und Prozessen verpflichtet sind und diese an Profil gewinnen lassen? Diesen Fragen soll in den kommenden drei Beiträgen ausgehend von einer Case Study nachgegangen werden.
Gegenstand und Thema der Case Study sind die ‹Neon Templates›, eine 1966 entstandene, frühe ‹Neon›-Arbeit des amerikanischen Künstlers Bruce Nauman, von deren Original für die von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung ‹Life in Your Head. When Attitudes Become Form› (Kunsthalle Bern, 22. März bis 27. April 1969) eine erste Ausstellungskopie angefertigt wurde. Das Original befand sich damals in der Sammlung von David Whitney. Heute ist die Arbeit Teil des Glass House von Philip Johnson in New Canaan, Connecticut. Die Case Study wurde unter dem Titel ‹Conceptual Care. Bruce Naumans ‹Neon Templates of the Left Half of My Body Taken at Ten-Inch Intervals› als Abschlussarbeit im Rahmen des Weiterbildungslehrgangs ‹Material & Technik› in Kooperation zwischen dem Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) verfasst und eingereicht. Der Prozess umfasste Recherchen im Archiv der Kunsthalle Bern, den „Szeemann Papers“ im Harald Szeemann Archive and Library (Getty Research Institute) und den Archives of American Art in New York. Sie wurden ergänzt und unterstützt durch Gespräche mit Restauratorinnen und Restauratoren und Art Handler sowie einen Werkstattbesuch im Neonatelier von Manuel Cota in der Nähe von Bern.