Die Fragestellung für die Case Study zu den «Neon Templates» (1967), einer frühen Neonarbeit von Bruce Nauman, basiert auf Beobachtungen an Reproduktionen von Archivmaterial, welche die Geschichte des Ausstellungsmachens mitgeschrieben haben: Neben Fotografien von Balthasar Burkhard, die sämtliche Räume und die Installation der einzelnen Arbeiten der Ausstellung «When Attitudes Become Form» in der Kunsthalle Bern dokumentieren, kommt dem begleitenden Ausstellungskatalog in seiner Dichte historischer Quellen eine besondere Stellung zu.
Im Verzeichnis der ausgestellten Werke wird im Ausstellungskatalog die in Bern gezeigte Fassung der «Neon Templates» als «copy» bezeichnet. Der Katalogeintrag zu Nauman innerhalb des Künstlerregisters von A-Z umfasst eine Doppelseite mit Lebensdaten, ein Verzeichnis ausgewählter Ausstellungen, Literatur und eine Reproduktion einer Farbfotografie von Jack Fulton, die Nauman in seinem Studio in San Francisco zeigt, im der Originalarbeit im Hintergrund. Diese wurde nach der Erstpräsentation in der Ausstellung «Bruce Nauman» (27. Januar – 17. Februar 1968) in der Leo Castelli Gallery von David Whitney angekauft. Unter der Fotografie sind handschriftliche «Instructions» von Nauman für die Herstellung einer Kopie des Originals der «Neon Templates» reproduziert:
«Here are instructions for the David Whitney piece. I mention the difficulty of obtaining glass of the right color. You (or someone) will just have to make another choice of the proper kind is not available. Uranium green has some strange properties which might be duplicated or appropriated in a stained glass of different color.»
Diese Instruktionen und die Information, dass in Bern eine Kopie gezeigt wurde, warfen folgende Fragen auf: Wie kam es zu der Vorgabe, dass eine Kopie, nicht aber das Original gezeigt werden sollte und konnte? Wo und wie wurde sie hergestellt? Welche Dokumente aus diesen Prozessen sind noch vorhanden und lassen Rückschlüsse zu? Welcher konzeptionelle Ansatz im Umgang mit Ausstellungskopien lässt sich hier fassen? Keine dieser Fragen liess sich allein aus dem bereits publizierten Material beantworten.
In der Konsequenz wurden zunächst Anfragen an die Institutionen gerichtet, von denen bekannt ist, dass sie Dokumente mit Bezug zu Harald Szeemann und der legendären Ausstellung haben. Dazu gehört neben der Kunsthalle Bern seit dem 2011 vollzogenen Ankauf des Harald Szeemann Archivs und der dazugehörigen Bibliothek (Harald Szeemann Archive and Library) das Getty Research Institute (GRI) in Los Angeles.
Als Harald Szeemann 2005 starb, hat er in der Fabricca Rossa, einer ehemaligen, für seine Zwecke umgenutzten Uhrenfabrik in Tegna (Tessin), in acht Räumen mit einer Fläche von rund 2700 Quadratmetern ein monumentales Archiv hinterlassen. Zum Bestand der Fabricca Rossa gehören 750 Laufmeter Dokumente, mehr als 26’000 Bücher, mehr als 22’000 Künstlerdossiers sowie 52’000 Fotografien. 2011 wurde der Gesamtbestand für das Getty Research Institute mit dem Anspruch angekauft, Archiv und Bibliothek für Forschung zugänglich zu machen und vollständig nach Los Angeles transferiert. Die Aufarbeitung und Erschliessung fand im Rahmen eines siebenjährigen Forschungsprojekts statt und wurde in Etappen umgesetzt. Die fotografischen Akten wurden im Juli 2012 geöffnet, Projektordner 2013, die Künstlerakten 2014, die verbleibenden Reihen 2015 und 2016 vervollständigt.
2018 machte die erste grosse, vom GRI organisierte Wanderausstellung «Harald Szeemann – Museum der Obsessionen» nach Los Angeles (6. Februar – 6. Mai 2018) in der Kunsthalle Bern (8. Juni – 2. September 2018) Station, bevor sie in die Kunsthalle Düsseldorf und das Castello di Rivoli weiterreiste. Dieser Aktualitätsbezug begünstigte, einen Kontakt aufzubauen und, dass die Anfrage mit grosser Aufgeschlossenheit wahrgenommen und unterstützt wurde.
Eine erste Reaktion bestand in der Vermittlung von Kontakten zu sogenannten Local Independent Researchers. Ihr Profil und ihre Arbeit bestehen darin, Rechercheaufträge für internationale Forschende zu übernehmen, denen es nicht möglich ist, für einen Forschungsaufenthalt nach Los Angeles zu kommen. Ihr Mandat schliesst ein, dass sie stellvertretend für Forschende auf Auftragsbasis Termine im «Special Reading Room» vereinbaren können und Arbeitsfotos ihrer Recherchen in dem vom GRI bereitgestellten Material weitergeben dürfen. Das GRI ist in dieser Dreierkonstellation Antrags- und Vertragspartner aller Beteiligten. Darüber hinaus ist es die Instanz, die mit ihrer digitalen und rechtlichen Infrastruktur darauf vorbereitet ist, den gesamten Prozess zu begleiten. Die Bereitstellung von offiziell digitalisierten Files der Originaldokumente mit Kopierschutz und digitalem Wasserzeichen ist dabei der erste Schritt für eine quellenbasierte, wissenschaftliche Auseinandersetzung, die auf den Arbeitsfotos der Independent Researchers aufbaut. Das GRI hat die Autorität, die Nutzungserlaubnis von offiziell digitalisiertem Material zu erteilen und zurückzuweisen. Akademische, nicht-kommerzielle Kontexte werden dabei bevorzugt behandelt. In diese Kategorie fällt die Case Study zu den «Neon Templates» von Bruce Nauman, weil sie als Abschlussarbeit im Rahmen des Weiterbildungslehrgangs «Material & Technik» als Kooperation zwischen dem SIK-ISEA und der Zürcher Hochschule der Künste konzipiert und umgesetzt wurde.
Alle drei vom GRI empfohlenen Local Independent Researchers wurden kontaktiert, Verfügbarkeiten und Tarife für die delegierte Recherche erfragt. Der Entscheid fiel zugunsten der Person mit der grössten Aufgeschlossenheit für einen Prozess aus, der möglicherweise erst in zwei Phasen zu einem Ergebnis führen könnte. Der erste Auftrag bestand darin, zu klären, ob sich das Foto von Jack Fulton und die handschriftlichen «Instructions» im GRI befinden. Die Antwort darauf fiel zum ersten Erstaunen und dem Wissen, dass sich das Archivmaterial zum Katalog im GRI befindet, negativ aus. Es ist zu vermuten, dass sich beide Archivalia in den privaten Archiven von Jack Fulton und Bruce Nauman selbst befinden.
Zusammen mit dem Independent Researcher wurde das Rechercheziel eingegrenzt und vereinbart, ein bestimmtes Pensum an Zeit in die Suche nach Material zu investieren, das dokumentiert, unter welchen Auflagen es zur «copy» kam. Auf denkbar effiziente Weise organisierte der Independent Researcher einen weiteren Termin im GRI. Dank Vertrautheit mit den Ordnungsstrukturen und Ablageorten konnte ein Brief gefunden werden, den Bruce Nauman von Southampton am 24. Februar 1969 an Harald Szeemann nach Bern schickte. Zu diesem Zeitpunkt war die «copy» bereits in Produktion, Harald Szeemann selbst noch vor Ausstellungseröffnung mit einer kommerziellen Anfrage konfrontiert, zu der Nauman Stellung nahm:
«I am glad you are able to make the neon piece in the appropriate color. David Whitney, I have spoken to and of course there is no problem ´lending´ the piece, but it cannot be sold as a copy. The piece should be either destroyed or sent back to Leo Castelli or perhaps to Ileana Sonnabend. This you must confirm with Leo please.»
Der Prozess von der ersten Kontaktaufnahme mit dem GRI bis zur unentgeltlichen Bereitstellung des offiziellen Files erstreckte sich über einem Zeitraum von rund fünf Monaten. An den Independent Researcher wurde ein Honorar auf Stundenbasis gezahlt. An diesem Beispiel zeigt sich, dass der «Finder» nicht zwingend mit dem/der Forscher/in identisch sein muss. Wesentlich dafür, ein überzeugendes Ergebnis zu erreichen, sind die Ausdauer und die Bereitschaft, die «Findings» zu analysieren und die nächsten Schritte im delegierten Arbeiten so genau wie möglich abzusprechen. Zudem lässt sich ein Charakteristikum fassen, das die Forschungsinfrastruktur herausragender Institutionen im Bereich der Humanities in den USA kennzeichnet. Sie agieren aus dem Druck und dem Interesse, exzellente Ergebnisse zu erzielen, öffentlich sichtbar zu machen und sich im internationalen Kontext zu profilieren, selbstbewusst pragmatisch, leistungs- und dienstleistungsorientiert. Diese Makroziele schaffen aufgrund der Infrastruktur und den digitalen Angeboten Raum für Forschung unterhalb der Grossprojekte, die vom GRI selbst in Kooperationen lanciert und veröffentlicht werden.
Mit Bezug auf die Harald Szeemann Archive wurde zuletzt das «Digital Seminar», ein digitales Graduiertenseminar in Kooperation zwischen dem GRI und den Departments für Kunstgeschichte und Curatorial Studies an der University of California, der University of Chicago und der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig abgeschlossen. Mitarbeitende, die sich transnational und aus ihrer Vertrautheit mit verschiedenen Forschungskulturen mit den Beständen auseinandergesetzt haben, kommen dabei als Kollaborateure vor, die gemeinsam die Zuständigkeit für die Metadaten übernommen und sich folgenden Fragestellungen gewidmet haben: «What is lost or gained when a researcher consults a collection virtually? When might on-site access be preferable to digital access, or vice versa? How do decisions about processing and imaging archival collections influence related research?» Der Anspruch des Seminars bestand darin «to provide a critical framework for the integration of art-historical research with technological tools and methods.» Eine Veröffentlichung der Ergebnisse und der Erfahrungen ist vorgesehen.
Inwiefern Ansätze und Überlegungen bestehen, die NICHT im GRI befindlichen Bestände langfristig mit auf einer Forschungsplattform einzubinden, ist nicht bekannt. Eine Kompetenz, die sich das GRI in der Zeit seit dem Ankauf 2011 systematisch aufgebaut hat, ist diejenige eines «Editors», der sich, wie der Direktor des GRI Thomas Gaehtgens es in seinem Vorwort zum Katalog der Ausstellung «Museum der Obsessionen» formuliert, bewusst ist, damit «in einem gewissen Grad das Vermächtnis von Harald Szeemann anzutreten und fortzuführen».
Brief von Bruce Nauman an Harald Szeemann, Southhampton, 24. 02. 1969, Harald Szeemann Papers, Getty Research Institute (2011 M 30), Box 273, General Correspondence, Projects M-S, Getty Research Institute, Los Angeles, USA.