Dies ist Teil IV einer vierteiligen Text-Serie, in der die Kunsthistorikerin Stefanie Manthey ihre Recherche in verschiedenen Archiven zum Produktionsprozess von Bruce Naumans «Neon Templates» (1967) nachzeichnet und die Frage formuliert, inwiefern die Bearbeitung von Archivmaterial durch Nutzer/innen in die Institutionen zurückfliesst. Lesen Sie auch Teil Izur Einführung,Teil II zur Recherche im Getty Research Institute undTeil IIIzu den Archives of American Art.
Der Ort, an dem die «Neon Templates» von Bruce Nauman im Frühsommer 1969 in der Ausstellung «When Attitudes Become Form» gezeigt wurden, ist eine Institution mit einem Mandat für zeitgenössische Kunst. Sie wurde 1918 als Kunsthalle Bern gegründet. Über Jahrzehnte wurde dort ein Archiv aufgebaut, das parallel zu den Vorbereitungen des 100-jährigen Jubiläums der Kunsthalle Bern 2018 durch Präsentationen von Teilbeständen in Ausstellungen sowie Veranstaltungen eine neue Sichtbarkeit und einen neuen Stellenwert gewonnen hat. Diese Aktualisierung hat zusammen mit dem Signal einer Ansprechbarkeit für archivbezogene Fragen und Themen motiviert, die Kunsthalle Bern zu Beginn der Recherche zu kontaktieren, sich über die Bestände, Findemittel und die Zugänglichkeit ihres Archivs zu informieren.
Nach Kontakt und Voranmeldung war es möglich, sich die ausstellungsrelevanten Archivschachteln vorlegen zu lassen und die Originale zu konsultieren. Der Termin im Archiv der Kunsthalle Bern umfasste eine Einführung in die Bestände, ihre Ordnung und Lagerung, das erweiterte Archiv-Konzept und die Nutzung einer speziell ausgestatteten Arbeitsstation zur selbstständigen Digitalisierung und Erfassung von Dokumenten.
Die Sammlung an Korrespondenz zur Ausstellung «When Attitudes Become Form» wird in säurefreien Schachteln, die mit einem RFID-Chip ausgestattet sind, im Archiv der Kunsthalle Bern gelagert. Sie ist Teil des Konvoluts, das in den acht Jahren von 1961 bis 1969, während Harald Szeemann dort als Direktor tätig war, entstanden ist. Dazu gehören maschinengeschriebene Briefe und Durchschläge, Telegramme, handschriftliche Notizen und Transportlisten. Die Korrespondenzsammlung ist einer der wenigen Bestände, die nach dem Verkauf des Gesamtbestands des Harald Szeemann Archivs aus der Fabricca Rossa an das Getty Research Institute an den Institutionen in Europa verblieben sind, für die er als Kurator zeitlich befristet oder projektbezogen tätig war. Die Monte Verità-Sammlungen wurden auf Szeemanns Wunsch hin vom Archiv getrennt und befinden sich heute für die Wissenschaft zugänglich im Archivio di Stato del Cantone Ticino in Bellinzona.
Die analoge Situation in Bern und ihre digitale Entsprechung sind Ergebnis eines Projekts der Kunsthalle Bern in Kooperation mit Astrom/Zimmer (heute Astrom/Zimmer & Tereszkiewiczk), das 2018 gelauncht wurde. Es wurde mit dem Anspruch initiiert, für das Archiv der Kunsthalle Bern ein Konzept für die weitere Erschliessung und Nutzung zu entwickeln und umzusetzen, das eine Infrastruktur aus Datenbank und Reprostation umfasst, mit der die Arbeit an und über die Bestände in Zusammenarbeit mit externen Personen geleistet und fortgeführt werden kann. Teil dieses Konzepts ist ein grafisches Interface, das die Bearbeitungstiefe zu einzelnen Dokumenten sowie Verbindungen zwischen den Archivalien aufzeigt und zusätzlich ermöglicht, Bezüge im Format von «(Expert's ) Stories» zu vertiefen.
In der Recherche vor Ort überlagerten sich Momente taktiler Erfahrung mit weiterführenden Reflexionen. Beim Sichten der vorsichtig übereinandergeschichteten Originale in ihrer Materialität – Stapel von Dünndruck-, Durchschlag- und Thermokopierpapieren, Notizen auf holzhaltigen Schreibpapieren – bestätigte sich, dass Korrespondenz einen wesentlichen Teil der kuratorischen Arbeit von Harald Szeemann ausmachte. Korrespondenz ist Teil des Arbeitsprozesses und sobald sie in ein Archiv einzieht Arbeitsmaterial, in dem eben diese Prozesse gespeichert sind, die auf die Handlungen der Akteure rückverweisen und erst im Kontext mit anderem Wissen lesbar werden. Mit Ausnahme der Korrespondenz von Bruce Nauman und Philip Johnson, in dessen Besitz die «Neon Templates of the Left Half of My Body Taken at Tench Inch Intervals» (1966) im Anschluss an die Ausstellung «When Attitudes Become Form» übergingen, befinden sich sämtliche Dokumente, mit denen sich die Schritte bei den Leihverhandlungen rekonstruieren lassen, im Archiv der Kunsthalle Bern. Zwischen dem 7. Januar und dem 9. April 1969 wurde ausgehandelt, dass für Bern eine Ausstellungskopie vor Ort mit der Auflage herzustellen ist, dass diese nach Ausstellungsende zerstört wird. Dazu gehört eine handschriftliche, undatierte Notiz mit blauem Filzstift auf kariertem Industriepapier mit einer Angabe über die Kosten: «Kunsthalle. Röhren an Plexirohr befestigt, Elektrodenglaskappen + Kabel (Transformer leihweise) + Montage. Fr. 350»: Ein Zettel.
In der weiteren Recherche gab dieser Zettel Anlass, den Fokus auf die Arbeitsprozesse zwischen Kurator, Künstlerinnen und Künstlern und Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Metiers zu lenken, die sich häufig in Folge ihnen eigener Dynamiken dokumentbasierten Ablageroutinen entziehen. Mit diesem Wechsel in der Perspektive stellten sich aus der Gegenwart Fragen nach den historischen Produktionsbedingungen, den Beständen in Archiven von Firmen und Handwerksbetrieben in Bern und nach Personen, die über Wissen verfügen.
Gespräche und Austausch, vor allem mit Manuel Cota, der als Neonspezialist in der Nähe von Bern tätig ist und in die Ausstellung zu Bruce Nauman, «Bruce Nauman. Disappearing Acts» (17. März bis 26. August 2018) im Schaulager involviert war, gewannen an Gewicht und Relevanz. In Bern gab es zum damaligen Zeitpunkt drei Neonateliers. Die Kunsthalle Bern gehörte zu den Kunden der Firma Westineon (heute: Westiform), für die Fritz Aeberhardt als Glasbläser arbeitete. Nach Abklärungen zu den Archivbeständen dieser Firma ist zu vermuten, dass Aeberhardt mit dem «neon man» identisch ist, den Szeemann in der Korrespondenz mit Nauman vom 27. Februar 1969 mit dem Zusatz erwähnt, dass er sogar das Glas «in the right color» habe und, dass er die Ausstellungskopie aus «uranium green glass» angefertigt habe, die in der Kunsthalle Bern gezeigt wurde und in den Installationsansichten von Balthasar Burkhart und Shunk Kender zu sehen ist.
Die relevanten Dokumente wurden an der Arbeitsstation in Bern zusammen mit den Nachbardokumenten aus dem gleichen Dossier als ein «Bundle» digitalisiert, mit Metadaten versehen und nach Prüfung durch die zuständige Mitarbeiterin der Kunsthalle online geschaltet: https://archiv.kunsthalle-bern.ch/en/search?exhibitions=402.
Durch diese Sichtbarkeit von Einzeldokumenten sind die Grundlagen dafür geschaffen, dass diese Quellen nun kontextualisert zur weiteren Konsultation verfügbar sind und bei künftigen Recherchen über die Ausstellung «When Attitudes Become Form» und die «Neon Templates» von Bruce Nauman, Fragen nach Ausstellungskopien und Materialität, mitberücksichtigt werden können.
Hier verschränken sich die Bestände des Archivs der Kunsthalle Bern mit dem Konzept des «Participatory Archive» als einem Ansatz, bei dem die Genese und die Vermittlung von Wissen als Kultur verstanden wird, bei der es mehr als eine Stimme, mehr als eine Autorin, einen Autor gibt und dessen Hauptmerkmal die Unabgeschlossenheit und die grundsätzliche Öffnung auf andere Perspektiven ist. Das führt in der Debatte um Machstrukturen und die Opazität von Entscheidungsprozessen zu einer Verschiebung auf Fragen nach Prozessen und Methoden, Wissen zu generieren und zu vermitteln, nach Informationsqualität, Ökonomien und die Öffnung für Recherchen, die die Bestände in Verbindung mit aktuellen Akteuren setzen und die Austausch, Kommunikation und Debatten ermöglichen. Forschende werden in dieser Konstellation als temporäre Mitarbeitende nach Innen und Aussen sichtbar. Fragen zum Verhältnis zwischen Archiv, Nutzerinnen und Nutzer, für die interne Abläufe vordefiniert sind, werden transparent.
In Bern wurde ein Anfang gemacht, das Analoge und das Digitale als Werkzeuge für eine Forschung zu etablieren, die an einem physischen Ort verankert ist und über deren Bestände digital in Konstellationen weitergearbeitet werden kann, die nicht ortsgebunden sind. Dabei bleibt die Kunsthalle als Institution in die Forschung über sie und ihre Aktivitäten als «agency» eingebunden: als kleine, dynamische und bewegliche Einheit, die über ihren Einsatz für zeitgenössische Kunst in ein Feld eingeschrieben ist, das aus globaler Perspektive neu vermessen und kartographiert wird, und das aus einer zentraleuropäischen Tradition eine spezielle Haltung im Umgang mit Abhängigkeiten und Interessen auszeichnet. Die Lösung für Bern ist ein Pilot, für den ein Team, Partner und Förderer gewonnen werden konnten. Sie zeigt im Kleinen, dass jedes Archiv auch eine «politische Angelegenheit» ist. Das rührt an die vielleicht grundsätzlichsten Fragen: Wie viel demokratisches Bewusstsein steckt in Institutionen aus Verantwortung für die Bestände und Inhalte und wie wird es gehandhabt?
Meret Ernst, «Knoten und Kanten. Der Verein Material-Archiv hat eine neue digitale Plattform», in: Hochparterre 9, 2002, S. 20-24.
Lukas Zimmer und Anthon Astrom im Gespräch mit dem Sammler Sebastian Jacobi und der Kuratorin Renate Flagmeier, in: Form, Bd. 281, Januar, Februar 2019, Experten über Archive, online verfügbar: https://azt.kleio.com/record/publication/143
Localizing the Contemporary: the Kunsthalle Bern as a Model, hrsg. von Peter J. Schneemann, Zürich: JRP|Ringier 2018.
Bruce Nauman: disappearing acts, hrsg. von Kathy Halbreich mit Isabel Freidli, Heidi Naef, Magnus Schaefer und Talyor Walsh, New York : Museum of Modern Art; Basel : Laurenz-Stiftungn, Schaulager, 2018.
Ausstellung: Schaulager Basel, 17. März-26. August 26, 2018; Museum of Modern Art, New York, 21. Oktober 2018-7. März 2019 (MoMA) und 21. Oktober- 24. März, 2019 (MoMA PS1)
Im Tun – eine Geschichte der Künstler*innen 2018–1993: Kunsthalle Bern 100 Jahre, hrsg. von Florian Dombois und Valérie Knoll, Zürich : Scheidegger & Spiess 2018.
Marcus Burckhardt, «Archiv, Superarchiv, Metarchiv», in: (Post)fotografisches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, hrsg. von Victoria von Fleming, Daniel Berndt und Yvonne Bialek, Jonas Verlag für Kunst und Literatur GmbH Marburg 2016, S. 68-81.
Nina Lager Vestberg, «The Ecology of the Photographic Image Archives, Power and Materiality», in: (Post)fotografisches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, hrsg. von Victoria von Fleming, Daniel Berndt und Yvonne Bialek, Jonas Verlag für Kunst und Literatur GmbH Marburg 2016, S. 82-95.
Estelle Blaschke, Banking on images: the Bettmann Archive and Corbis, Leipzig: Spector Books, 2016.
Sammlungsökonomien, hrsg. von Nils Güttler und Ina Heumann, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016.
Aus dem Musée éclaté an den Ort des Werks: Kunsthalle Bern 1969-1993, hrsg. von Hans Rudolf Reust, Bern: Kunsthalle 1993.
Jean-Christophe Ammann, Von Hodler zur Antiform: Geschichte der Kunsthalle Bern, Bern: Benteli 1970.
Live in your head : When attitudes become form – Works, concepts, processes, situations, Information = Wenn Attitüden Form werden – Werke, Konzepte, Vorgänge, Situationen, Information, Konzept und Ausstellung Harald Szeemann. Bern: Kunsthalle, 1969.