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Das Gespräch mit Cornel Dora fand am 27. November 2020 online statt. Die Veranstaltung war ursprünglich im Rahmen des zweitägigen Symposiums «Finders Keepers» im Oktober 2020 vorgesehen und musste aufgrund der Corona-Pandemie in den virtuellen Raum verlegt werden. Wir danken Cornel Dora, Bibliothekar der Stiftsbibliothek St. Gallen, für seine Flexibilität und den spannenden Austausch. Unter dem Filter Finders Keepers finden Sie weitere Zusammenfassungen von ebenfalls in diesem Format durchgeführten Gesprächen.
Was machen Bibliotheken? Oder anders formuliert: Was können Bibliotheken heute sein? Mit dieser Frage eröffnet Cornel Dora unser Gespräch vom 27. November 2020 und nimmt damit direkt unser Anliegen der Nutzerinnen und Nutzer auf. Dora hält eine Antwort bereit, die in der Stiftsbibliothek selber gründet, respektive im barocken Bibliotheksportal, geschaffen 1781 von Franz Anton Dirr, mit der griechischen Inschrift PSYCHES IATREION. Wie Dora zu Beginn ausführt, meint «psyche» im ursprünglichen Sinne «Seele» – erst durch die Säkularisierung der Aufklärung nahm der Begriff die heutige Bedeutung «Psyche» an. Somit umfasst der Begriff sowohl Geist als Psyche. «Iatreion» meint soviel wie «Spital». Eine Bibliothek als «Heilstätte der Seele»? Sozusagen Bücher als Futter für Geist und Psyche? Dieser Ansatz gefällt uns!
Bücher sind mehr, so Dora, als Wissensspeicher: Sie sollen uns dabei helfen, unsere Seele zu finden. In einer kurzen Präsentation führt Dora diesen Leitgedanken aus.
Lesen als Kulturtechnik, die mehr eröffnet als Wissen
Eine erste Herleitung macht Dora aus der Geschichte der Bibliotheken. Auch hier ist die präzise Wortwahl wichtig, denn die Bibliotheken wurden nicht gegründet, sondern sie sind entstanden. Und zwar, weil sie eine Notwendigkeit waren. Zur Erklärung zieht Dora die Gallusvita hinzu. In dieser wird berichtet, wie Gallus Briefe und Berichte liest. Einer dieser Briefe, der ihn im Jahr 615 erreichte, habe ihn zum Weinen gebracht, als er vom Tod Kolumban von Luxeuils erfuhr. Das Lesen von Briefen, als Kulturtechnik nicht weit entfernt vom Lesen der Bücher, wird so durch Doras Ausführungen als eine Praxis greifbar, die uns bewegt. Ein zweites Beispiel aus der Gallusvita, das der Stiftsbibliothekar ausführt, hat nun scheinbar einen pragmatischeren Grund: In einem Brief wird Gallus gebeten, Abt von Luxeuil zu werden, was er jedoch ablehnt. An seiner Stelle wird Johannes aus Grabs gewählt. Johannes kommt infolge nach St. Gallen zu Gallus und wird von diesem anhand von Büchern unterrichtet. Weiter berichtet die Vita, wie Johannes das in dieser Zeit durch die Bücher erlernte Wissen in seinen «Armarium Cordis» – seinen «Schatz des Herzens», aufgenommen hat. Was den Referenten wieder zurückbringt zum Eingangsgedanken: Man will mit Büchern seine Seele finden, oder Bücher bereichern die Seele.
Bibliothek: Theke aus der Bibel
Ebenfalls wird anhand der Gallusvita deutlich im Zusammenhang mit der Entstehung von Bibliotheken: Die Klöster waren die Bildungsinstitutionen der Zeit, in diesem Umfeld entstand die westeuropäische Bibliothekskultur im Frühmittelalter neu. Hierbei spielte auch die Benedikts-Regel eine wichtige Rolle – ein Regelwerk, das seit dem frühen Mittelalter die Grundlage des benediktinischen Klosterlebens bildet: Innerhalb dieser Anleitung werden die Mönche zum Lesen erzogen. Eine bis drei Stunden pro Tag sollten sie lesen. Den Büchern kommt eine sehr wichtige Rolle zu in der Weitergabe von Wissen, weil sie dauerhafter sind als orale Überlieferungen. In der Benedikts-Regel kommt dann auch der Begriff «Bibliothek» vor, allerdings in einem anderen Sinn, als wir ihn heute gebrauchen. Biblio-Thek: eine Theke aus der Bibel.
Institutionalisierung und Wertsteigerung
Die Bibliotheken sind entstanden, gewachsen und haben an Wert gewonnen. So auch die Stiftsbibliothek in St. Gallen, die um das Jahr 1000 etwa 400 Bände umfasste. Zunächst hat man nicht bedacht, dass dieser Bücherbestand über Jahrhunderte erhalten bleiben soll, und hat ihn auch nicht katalogisiert. Die Büchersammlung war aber aufgrund des Pergaments und der jahrelangen Schreibarbeiten, ebenso wie der kostbaren Buchmalereien, unheimlich wertvoll. Erst um circa 860 – rund zweihundert Jahre nach Gallus – wurde eine Bibliothekarsamt geschaffen. Der erste Bibliothekar, Uto, hat dann einen Katalog eingeführt.
Dora findet bemerkenswert, dass ein Bibliothekar erst mit fortschreitender Institutionalisierung eingeführt wurde. Mit der weiteren Institutionalisierung stieg auch der Wert der Bibliothek und es wurde wichtig, dass man die Bibliothek schützt. Dafür diente ab dem 10. Jahrhundert der Hartmut-Turm in St. Gallen mit seinen 2 Meter dicken Mauern, wo die Bibliothek fast 600 Jahre lang unversehrt gelegen hat. So hat sie die ganzen Stadtbrände und Naturkatastrophen überdauert.
Aufgaben der Konservierung
Die Geschichte der Bibliothek ist so zentral an dieser Stelle, da sie auch Doras Haltung gegenüber der Konservierung prägt, die heute durch Normen und Standards auch ein stückweit technokratisch verdorben wurde. Dora gibt zu bedenken, dass viele der Klosterbibliotheken, so auch die Stiftsbibliothek, sich in historischen Räumen befinden, die sich grundsätzlich für die Aufbewahrung eignen. Wenn man die Bibliotheksbestände in andere Räume verschiebt, generiert man nicht nur konservatorische Probleme, sondern zerstört auch den historischen Zusammenhang.
Und wie steht’s mit der Digitalisierung?
Mit E-codices arbeitet die Stiftsbibliothek mit an einem weltweit führenden Programm in der Digitalisierung von Handschriften. Doch es gibt auch Dinge, die das Digitalisat nicht leisten kann: Die Haptik, das Gewicht, der Geruch, das Blättern, die Ansicht von Doppelseiten… Man könnte fast sagen, man nimmt den Büchern selbst die Seele. Doch für wen tut man das? Nach Dora geht es auch um die Frage, ob es jemanden hilft, wenn man die Bücher digitalisiert? Der Wissenschaft, selbstverständlich, doch welcher Wissenschaft? Er bedauert, dass die Spiritualität in der Geschichtsforschung kaum beachtet wird. Die Stiftsbibliothek ist eine spirituelle Bibliothek, dies gälte es wert zu schätzen.
Schwerpunkte der Bibliothekarbeit heute
Zu den heutigen Aufgaben des Stiftsbibliothekars gehört ganz klar die Vermittlung: Was und mit welchem Ziel vermittelt man, worum geht es eigentlich? Für Dora ist es wichtig, die Bibliothek als Ikone zu pflegen. «Wir brauchen Elemente in unserer Gesellschaft, die Vergangenheit aufzeigen.»
Zudem ist es ihm ein Anliegen, die Bibliothek als Ort des Idealismus zu etablieren: Wir brauchen Idealismus in unserer Gesellschaft, so ist der Stiftsbibliothekar überzeugt. Die Stiftsbibliothek kann hierbei bestes Vorbild sein, da sie mit ihren Büchern zahlreiche Zeugen birgt, wie der Idealismus im frühen Mittelalter aufgekommen ist. Überhaupt setzt sich Dora für ein Verständnis des frühen Mittelalters ein, das von der gängigen Interpretation der düsteren und kriegerischen Epoche abweicht: Laut Dora war das frühe Mittelalter eine erstaunlich tolerante Zeit, die viel friedlicher war, als wir glauben. Dieser Idealismus gründete stark in der Bibel, die insbesondere die Haltung der Menschen prägte, das Wichtige komme erst nach dem Tod und das jetzige Leben nur ein Vorspiel dessen sei, was uns erwartet.
Inhalte aktivieren
Ob Cornel Dora ein paar Filmtipps habe, die das Mittelalter so darstellen, wie er es sieht, nämlich als offene, idealistische Zeit? Mit der Antwort bleibt Dora seinem Berufsstand treu: «Der beste Film in dem Bereich sind ein paar Bücher.» So empfiehlt er Peter Browns Bücher über die Spätantike und den Beginn des Mittelalters, Jörg Lausters Werk «Die Verzauberung der Welt» zur Kulturgeschichte des Christentums, aber allem voran das Lesen der originalen Texte, zum Beispiel die immer noch faszinierenden Werke des Kirchenvaters Augustinus. Man soll versuchen, die Texte offen und frisch zu lesen, also ohne das mitzudenken, was man in der Schule oder in Hollywood-Filmen über das Mittelalter gelernt habe. Man soll Texten ihre Freiheit zugestehen, und darauf basierend Überlegungen anstellen, was das Geschriebene bedeuten kann.
Dieser Ansatz erinnert uns an unser erstes Gespräch, das wir mit dem Archiv der Avantgarden geführt haben: Auch diese begegnen dem Inhalt des Archivs mit offenen Augen und befragen es dann auf dessen Bedeutung für heute – anstatt eine heutige Perspektive über die Inhalte zu stülpen. Dieser Ansatz ist überzeugend und macht Lust, die Inhalte einer Bibliothek, eines Archivs oder einer Sammlung zu vermitteln und zu aktivieren.
Cornel Dora gibt dann auch ein passendes Beispiel, wie dies zu verstehen ist: Das Labyrinth sei ein geeignetes Bild, das Mittelalter zu verstehen. Heute denken wir das Labyrinth als Ort, aus dem wir nicht rausfinden. Ein Irrgarten, ein schrecklicher Ort. Im Mittelalter war das anders: Das Labyrinth war kein Irrgang, sondern ein komplizierter Weg, auf dem man aber nichts falsch machen kann – und das ist der entscheidende Unterschied –, weil man so oder so ans Ziel kommt. Die Menschen hatten ein gewisses Vertrauen in die Seelenführung – und genau um diese Seelenführung geht es ihm, wenn wir von Bibliotheken berichten und mit Bibliotheken arbeiten. In diesem Sinne wollen wir das letzte Wort Cornel Dora überlassen, mit einem Text, den er uns im Vorfeld zu gesendet hat:
«Bücher machen, Bücher haben, Bücher finden, Bücher nutzen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das natürlich nichts Neues ist und es sich auch heute mehr formal als substanziell verändert. Ein Gang durch die Geschichte macht deutlich, wie alles seine Zeit hat. Büchersammlungen entstehen und verschwinden wieder, werden etabliert und ausgebaut, ihre Bestände verzeichnet und eifrig von Menschen genutzt. Sie werden begehrt, bedroht und zerstört, mit Glück gerettet, vernachlässigt, neu aufgestellt, hasserfüllt verbrannt. Sie werden beklagt, gesäubert, geplündert und zerstreut, wieder zusammengeführt, erforscht, geflüchtet und verstaatlicht, schliesslich ausgezeichnet, digitalisiert und kommerzialisiert. Es ist ein doofes Wort: Habent fata sua libelli, ‹Bücher haben ihre Schicksale›, als ob sie Menschen wären. Aber es ist wahr. Bücher und Bibliotheken sind Teil unseres Lebens, berühren und prägen uns. Gottseidank.»