Das Gespräch mit Viera Kučera fand am 2. Dezember 2020 online statt. Die Veranstaltung war ursprünglich im Rahmen des zweitägigen Symposiums «Finders Keepers» im Oktober 2020 vorgesehen und musste aufgrund der Corona-Pandemie in den virtuellen Raum verlegt werden. Wir danken Viera Kučera, Mitarbeiterin der Kunstgiesserei St. Gallen, für ihre Flexibilität und den spannenden Austausch. Unter dem Filter Finders Keepers finden Sie weitere Zusammenfassungen von ebenfalls in diesem Format durchgeführten Gesprächen.
Bereits im Frühling 2020 hatten wir mit Viera Kučera ein Interview geführt. Im Zentrum standen Fragen nach dem Dokumentieren und Archivieren von Entwurfs- und Produktionsprozessen und der Recherche nach neuen und alten Handwerkstechniken, die Viera Kučera für ihre Arbeit braucht. An dieses Gespräch, das Sie hier im Journal finden, haben wir angeschlossen und den Blick verstärkt auf das Firmenarchiv der Kunstgiesserei St. Gallen gerichtet, das Viera Kučera neben ihrer Aufgabe als Restauratorin betreut.
Produktionsmusterarchiv der Kunstgiesserei St. Gallen
Anders als öffentliche Sammlungen haben private Institutionen mit ihren betriebsinternen Archiven keinen Anspruch, Inhalte der Öffentlichkeit zu vermitteln. Oder doch? Ein Betrieb wie die Kunstgiesserei St. Gallen mit seinen aussergewöhnlichen Produktionen sammelt konstant wertvolles Wissen. Schon bei den ersten Produktionen seit der Gründung der Kunstgiesserei 1983 hatte Felix Lehner Muster und Materialien gesammelt und so die Herstellung von Kunstwerken begleitet, um dieses Wissen später wieder abrufen zu können. Wie Viera Kučera berichtet, ist das Produktionsmusterarchiv zu Beginn eher organisch gewachsen. Mit zunehmender Grösse dieser Sammlung wurde eine systematische Erfassung und Dokumentation erforderlich, und Mitarbeitende haben begonnen, die Geschichte der Muster aufzuarbeiten, sie also spezifischen Produktionen und Produktionsschritten zuzuschreiben. In jenem Prozess wurde klar, dass zwei Sammlungen benötigt werden: eine, in der die Muster an die Produktionen gebunden sind, und eine, die öffentlich genutzt werden kann, was als Werkstoffarchiv der Stiftung Sitterwerk resultierte. Zur vertieften Lektüre über diese Rollenteilung von Firmenarchiv und öffentlicher Sammlung finden Sie den Essay A Memory of Materials: From Production to Documentation of Outdoor Painted Sculptures von Julia Lütolf und Peter von Bartheld.
Ablage und Nutzung
Wie geht die Dokumentation der Produktion in der Kunstgiesserei St. Gallen heute zugange? Was geschieht mit den zig Mustern, die während der Arbeit zur Seite gelegt werden? Gemäss Viera Kučera werden die Muster fotografiert, in Schachteln verpackt, beschriftet, die Schachteln nochmals fotografiert und schliesslich ins Lager eingeordnet. Die Schachteln sind zugeklebt und werden möglichst nicht geöffnet. Primär ist der Zugang dank Fotos der Inhalte in der web-basierten Bilddatenbank gewährleistet, womit bereits viele Informationen vermittelt werden. Die Bilder werden entsprechend verschlagwortet und abgelegt. Wie wir während unseres Gesprächs feststellen, haben diese Bilder eine ganz eigene, ästhetische Qualität. Sie sind an sich attraktiv, zeigen verschiedene Muster und verdeutlichen die Fülle an Materialproben und Zwischenschritten, die in der Produktion nötig sind. Neben den Mustern findet man auch administrative Dokumente, welche über die Schlagworte mit den Fotos verbunden sind.
Mittlerweile umfasst die Datenbank 15'000 Bilder und Dokumente und sammelt so produktionsspezifische Daten. Das physische Archiv umfasst mehrere hundert Produktionsmuster, ein Lager von Negativ-Formen befindet sich im Kunstgiesserei-Keller.
Für die Mitarbeitenden der Kunstgiesserei ist dieses System wertvoll, da sie über die digitale Ablage schnell und von überall entsprechende Informationen zu Projekten finden. Meist genügen diese Daten, sodass die Schachteln mit den physischen Mustern und Produktionsschritten nur in seltenen Fällten geöffnet werden müssen. Auch neue Mitarbeitende können aus diesem Fundus schöpfen und sich schnell einarbeiten. Die Produktionskiste zu Roman Signers «Stiefelbrunnen» umfasst beispielsweise sämtliche Daten zur Produktion des Stiefels. Es gibt zahlreiche Muster in der Box, wie ein Stück der laminierten Oberfläche, das Gipspositiv, sogar den Originalstiefel, den Roman Signer als Vorlage benutzt hatte. Als der Brunnen restauriert werden musste, waren diese Muster sehr wertvoll und machten die Informationsbeschaffung möglich. Schnell konnte sich Viera ein Bild machen und fand so eine gute Grundlage, das Werk entsprechend dem Material und der Intention des Künstlers zu restaurieren.
Wo die Informationen stecken
Eine gewisse Übersichtlichkeit und Struktur sind wichtig, um sich im Archiv zurechtzufinden. Dazu gehört auch das Verdichten der elementaren Informationen. Es geht um das berüchtigte ‘less is more’, um die Balance in einer Schachtel, wo nicht endlos viele Muster drin sein sollen, die kaum zu verstehen sind, und trotzdem genug, um den Produktionsprozess nachzuvollziehen. Diese Balance mussten die Mitarbeitenden der Kunstgiesserei auch zuerst selbst eruieren und lernen: Es kommt nur soviel in die Schachteln, wie wirklich nötig ist.
Bei den Bildern ist man weniger selektiv — was sich bereits oft bewährt hat. So sind anscheinend «schlechte» Bilder manchmal doch nützlich, weil sie sehr viele nebensächliche Informationen enthalten. Wie beispielsweise Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind, und so rekonstruiert werden kann, wer an dem Projekt gearbeitet hat, und man sich so wiederum relativ rasch zur gesuchten Information durchfragen kann.
Der Wert der Dokumentation
Monetär gesehen ist die Anlage von einem Firmenarchiv für die Kunstgiesserei eine schwierige Rechnung. In den meisten Fällen wird die Dokumentation von den Auftraggeberinnen und Auftraggeber nicht als zusätzliche Leistung bezahlt. Bei Skulpturen geht man davon aus, dass sie ein langes Leben haben. Im ersten Moment finden die Künstlerinnen und Künstler, Auftraggeberinnen und Auftraggeber die Dokumentation nicht primär wichtig. Hinzu kommt, dass Künstlerinnen und Künstler im Prozess der Entwicklung verständlicherweise sehr sensibel und unsicher sind und es etwas Zeit und Feingefühl braucht, bis man die minutiöse Dokumentation ansprechen kann. Nach gewisser Zeit ist es dann jeweils auch kein Problem mehr, in Absprache mit den Künstlerinnen und Künstlern sogar gewisse Details im Werkstoffarchiv öffentlich zu machen.
Für den Arbeitsprozess ist die Dokumentation unbestritten wertvoll. Ein anderes Beispiel hierfür zeigt sich bei Schäden von Farbbeschichtungen. Oft heissen die Materialien zwar Jahre später noch gleich, die Zusammensetzung sind aber nicht mehr dieselben, beispielsweise weil krebserregende Stoffe aus der Rezeptur genommen wurden. Kann man die Rezeptur nicht wiederholen, sind plötzlich auch Muster von Lösungen und Materialien wichtig, die nicht gewählt wurden. Oft geben Muster mit einer guten Dokumentation Aufschluss darüber, warum Künstlerinnen oder Künstler genau das Muster ausgewählt haben, was sonst noch zur Verfügung stand, und was ausgeschlossen wurde. Kann man anhand der Dokumentation den Entscheidungsprozess nachvollziehen, ist das enorm hilfreich für die weitere Bearbeitung. Dies ist ein Bereich, den die Kunstgiesserei St. Gallen zukünftig verstärken will, denn vielschichtige Entscheidungsprozesse und Überlegungen, die hinter der Wahl eines gewissen Materials oder einer Farbe stehen, kann man nicht anhand eines Musters vermitteln. Da genügt auch das schönste Archiv nicht. Und uns wird klar: In diesem Archiv geht es um sehr viel mehr als um ein reines Ablagesystem: um Firmenkultur, Ideologie, Materialgewissen –¬ um einen Informationsgarten, den man gewissenhaft pflegt.