Archiv der Avantgarden Ein Gespräch mit Rudolf Fischer und Marcelo Rezende
Das Gespräch mit Marcelo Rezende und Rudolf Fischer zum Archiv der Avantgarden fand am 25. November 2020 online statt. Die Veranstaltung war ursprünglich im Rahmen des zweitägigen Symposiums «Finders Keepers» im Oktober 2020 vorgesehen und musste aufgrund der Corona-Pandemie in den virtuellen Raum verlegt werden. Wir danken Rudolf Fischer und Marcelo Rezende, Co-Leiter des Archiv der Avantgarden, für ihre Flexibilität und den spannenden Austausch. Unter dem Filter Finders Keepers finden Sie weitere Zusammenfassungen von ebenfalls in diesem Format durchgeführten Gesprächen.
Das Archiv der Avantgarden (AdA) in Dresden enthält eine der umfangreichsten Sammlungen von Kunstwerken, Objekten und Dokumenten der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Der Bestand wurde durch eine Einzelperson, den Sammler Egidio Marzona, zusammengetragen, dessen Aufmerksamkeit nicht nur dem Kunstwerk galt. Er interessierte sich ebenso für den künstlerischen Prozess und sammelte von Einladungskarten, Aufklebern, Skizzen, Fotos bis hin zu Korrespondenz. Innerhalb dieser Sammlung werden alle Objekte gleichwertig behandelt, die getippte Notiz genauso wie das signierte Kunstwerk.
Insgesamt ist so ein Bestand von rund 392'000 Archivalien, 190'000 Monografien und Zeitschriften, 10'350 Plakaten und Plänen, 3950 Kunstwerken, Möbeln und Designobjekten und 1'266 AV-Medien (Filme, Super-8-Filme, Videokassetten, u.a.) zusammengekommen, der 2016 als Schenkung an die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden übergeben wurde.
Ort der «permanenten Forschung»
Wie geht man mit so einer heterogenen Sammlung um? In einem Gespräch mit Rudolf Fischer und Marcelo Rezende, Co-Leiter des AdA, am 25. November 2020, haben die beiden ihr zentrales Konzept einer «permanenten Forschung» vorgestellt. Dabei faszinierte insbesondere ihr Ansatz, die Kernideen der Avantgarden in die Gegenwart zu transportieren und an aktuelle Diskurse anzubinden, sodass diese aus einer heutigen Perspektive gedacht und verstanden werden können. Dieses Prinzip verfolgen Rezende und Fischer auf allen Ebenen, sei dies in ihren Ausstellungsprojekten, Forschungsprogrammen oder der Konzeption des neuen Blockhauses, das ab 2022 das AdA beherbergen wird.
«From the Present to the Past to the Future»
Genauso wie die Objekte im AdA keiner Hierarchie im Sinne unterschiedlicher Wertigkeiten unterliegen, so verfolgen Rezende und Fischer einen nicht-hierarchischen Ansatz der Wissensvermittlung. Die Methodologie, welche sie dabei etablieren, könnte man mit dem Leitsatz «From the Present to the Past to the Future» betiteln. Diese entfaltet sich anhand eines spannenden Fragekatalogs, welche auf der Haltung basiert, dass die Avantgarden kein abgeschlossenes Phänomen sind, sondern ein Prozess, der weitergeht:
Welche Beziehung will man zur Vergangenheit aufbauen? Wie kann das Archiv als Institution eine passive Position verlassen und aktiv agieren, um eine für die Gesellschaft relevante Funktion zu erfüllen? Wie kann man eine kritische Perspektive darauf entwickeln, was ein Archiv ist? Welche Beziehungen kann man herstellen? Wie kann man vom Archiv lernen?
Die Deutungshoheit an die Besucherinnen und Besucher zurückgeben
Eine Art, auf diese Fragen zu reagieren, erläutert Marcelo Rezende an einem anschaulichen Beispiel: Auf einem Tisch liegen verschiedene Ausgaben eines Magazins der 1920er auf. Auf deren Cover sind Porträts von Arbeitern zu sehen. Auf demselben Tisch liegen weitere Magazine mit Porträts auf den Covers: Es handelt sich um die berühmten Künstlerporträts, die Andy Warhol gemacht hat. Wie ist diese Gegenüberstellung zu lesen? Die Arbeiter waren die Stars des kommunistischen Regimes, darum wurden sie auf dem Cover abgebildet? Die Stars sind in Wahrheit die Arbeiter*innen der Unterhaltungsindustrie? Die Antwort, die man auf beide Fragen erwidern kann: «It’s possible. You made the connection, I don’t give it to you». Die Deutungshoheit liegt bei den Besuchenden, womit das AdA auf innovative Weise ein zentrales Problem jeder archivarischen Praxis löst.
«Is This Tomorrow?»
Es geht also darum, über die museologischen und historischen Ansprüche hinaus eine Bedeutung zu finden und nach dem Kontext zu fragen, in dem historische Dokumente agieren können. Ein weiteres Beispiel für diese Arbeitsweise erläutert Rudolf Fischer anhand der Ausstellung «Is This Tomorrow?», die 2018 im Zentrum für Baukultur Sachsen, in Dresden, zu sehen war. Ausgehend von der historischen Ausstellung «This Is Tomorrow», die Mitte der 1950er Jahre in London stattfand, haben sich die beiden Leiter vom AdA gefragt, wie diese Ausstellung ein Tool für sie sein kann, einen Kommentar zu den aktuellen Problemen der Gegenwart zu kreieren. Sie haben keine historische Nachbildung der Ausstellung verfolgt, sondern vielmehr die Ideen, die Konzepte der Ausstellung aktualisiert, indem sie die Themen «Urban Scale» und «gesellschaftliches Zusammenleben» befragten. Die Ideen und Erfahrungen dieser Ausstellung fliessen wiederum in Konzeption und Umsetzung des neuen Blockhauses mit ein.
Blockhaus: Neubau im Altbau
Eine Herausforderung, die Fischer während unseres Gesprächs beschreibt, ist die «Transmission»: Wie kann man Wissen an die Besucherinnen und Besucher weitergeben? Hierbei steht die Vision eines verschränkten Arbeitsraums im Zentrum, in dem alle Prozesse, die sich im AdA vollziehen – von Forschung über Ausstellung zu Vermittlungsprojekten –, ineinander übergehen. In einem modularen Raum, mit Handbibliothek, Ausstellungsflächen, Archivraum, Empore mit Arbeitsplätzen für Gäste und Mitarbeitende, der alles mit Blickachsen verbindet, wird diese Vision im Kern des Blockhauses umgesetzt. Der multifunktionale Raum wird in einem historischem Barockbau mit komplett neuem Innenausbau realisiert, und so wird auch auf architektonischer Ebene die Vergangenheit aktiviert.
Wie fliesst die Forschung durch Nutzerinnen und Nutzer ins Archiv?
Einer der wichtigsten Ansätze des AdA ist die «permanente Forschung», sowohl von Künstlerinnen und Künstler oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, denn, wie Fischer ausführt, «der Prozess ist ziemlich der gleiche, aber das Ergebnis ist ein anderes». Eine Künstlerin mache vielleicht einen Film, der Wissenschaftler verfasse ein Essay. Von Anfang an haben Fischer und Rezende einen erweiterten Forschungsbegriff vertreten, der jede Aktivität innerhalb des Archivs als einen Prozess der Forschung begreift. Es ist Aufgabe der Institution, das Archiv in einer Art und Weise zu systematisieren, dass es selbst auch etwas lernen kann. Das Archiv wird also durchlässig und empfänglich für das Wissen, das durch die Arbeit in und mit ihm generiert wird. Indem man Forschenden das Gefühl gibt, sie seien Teil von einem grossen Ganzen und sie trügen durch das kooperative Arbeiten zum Wachsen des Archives bei, könne man Forschende auch dazu motivieren, ihren persönlichen Prozess zu teilen, davon ist Rudolf Fischer überzeugt.
«Small Is Beautiful»
Zum Schluss wollen wir wissen, welche neuen Projekte fürs kommende Jahr vorgesehen sind, welche Fragen der Avantgarden 2021 aktuell sind? Natürlich hat auch hier die Corona-Pandemie einen Strich durch die Planung gemacht, doch die beinahe ungebremste und positive Energie, die Fischer und Rezende mitbringen, scheint keineswegs getrübt deswegen. Wie die beiden erklären, werden für sie Fragen zentral sein, die sich mit der Erweiterung des Archivs befassen. Aber keineswegs im Sinne der materiellen Erweiterung, sondern vielmehr um den Lernprozess des AdA: Wie kann man ein System, einen Prozess kreieren, der es dem AdA erlaubt zu lernen, neue Inhalte in sich aufzunehmen – zum Beispiel aus privaten Archiven –, ohne diese tatsächlich, also physisch, zu besitzen. Oder in den Worten Rezendes: «It’s about stopping the necessity to buy and get bigger and bigger. Small is beautiful. The idea of collecting hasn’t stopped, but it is going in the direction of sharing».
Wir danken Rudolf Fischer und Marcelo Rezende für die Bereitstellung verschiedener – älterer sowie teils noch unveröffentlichter – Texte, die einen Einblick in die Arbeit und die Ziele des Archiv der Avantgarden geben.