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Die Künstlerin Eva Weinmayr hat im Rahmen des Workshops «Ortspezifisches Vokabular: der Katalog» ihr Projekt «Library of Inclusions and Omissions» vorgestellt. In ihrem Essay vertieft sie ihre Überlegungen zur Bibliothek als Werkzeug um darüber nachzudenken, welche Bücher in etablierten Bibliotheken und Datenbanken fehlen.
Die «Library of Inclusions and Omissions (LIO)» führt Publikationen zusammen, die nicht mit dem vorwiegend «weissen», patriarchalen Bibliothekskanon des globalen Nordens konform gehen. Im weitesten Sinn fragt das Projekt damit danach, welche Art von Wissen von westlichen institutionalisierten Bibliotheken bevorzugt validiert, legitimiert und autorisiert wird – und was ihnen fehlt.
Präsentiert im Kontext von Ausstellungen, Workshops, Symposien und zu anderen Gelegenheiten, hat die LIO als kompakte Referenzbibliothek die Gestalt eines transitorischen Pop-Up-Lesesaals. Ihr Bestand wächst durch Aufrufe, Publikationen an die LIO auszuleihen, die nicht in etablierten Bibliotheken zu finden sind.
Ich glaube, die Frage nach den Leerstellen im westlichen Bibliothekskanon ist extrem relevant – wenn auch schwierig praktisch zu handhaben. Denn als weisse Frau mit europäischem Pass habe ich zwangsläufig blinde Flecken, sehe nur bestimmte Leerstellen und andere nicht. Umso wichtiger ist es, dass die Beiträge zur LIO in erster Linie von anderen kommen – das minimiert die Möglichkeit, bei der Suche nach Leerstellen etwas zu übersehen.
Wie lässt sich Wissen überhaupt teilen?
Derzeit ist die LIO also eine kollektiv zusammengetragene Materialsammlung – nicht nur von Büchern, sondern auch von einzelnen Abbildungen oder fotokopierten Textseiten. Die Bibliothek wird nicht nach den üblichen institutionellen Parametern, wie Ordnung, Effizienz, Standardisierung, Kategorisierung betrieben. Es handelt sich auch nicht um ein digitales Archiv oder eine digitale Schattenbibliothek, sondern um ein Konglomerat aus gedruckten Objekten aus Papier, Tinte und Druckerschwärze mit einem breiten Spektrum an Grösse, Gewicht und Haptik.
Die in der LIO vereinten Objekte sind oft im Umfang sehr dünn und fragil, häufig nur eine Seite stark, oder sie sind überdimensioniert. Das wirft zusätzlich die Frage auf, welches Format Wissen in einer Bibliothek annehmen könnte. Ungebundene oder besonders zerbrechliche Publikationen landen in konventionellen Bibliotheken meistens direkt in den Sondersammlungen, weil sie aus konservatorischen Gründen nur mit weissen Handschuhen angefasst werden dürfen. Die LIO stellt demgegenüber die Frage: Welche Objektformate könnte man sich sonst noch vorstellen? Oder grundsätzlicher: welche Formen gäbe es überhaupt jenseits von Bibliotheksbüchern sonst noch, um Wissen zu teilen?
Die LIO bringt zudem eine Reihe von Materialien zusammen, die nicht unbedingt schon weithin legitimiert oder autorisiert sind. Beide Aspekte unterscheiden sie von einer institutionalisierten Bibliothek, die meist nur Publikationen anschafft, die schon eine lange Kette von Prüfungs- und Bewertungsschritten durchlaufen haben. Die Geldgeber, der Verleger, der Vertrieb, das Marketing, der Buchhandel – all diese Stationen muss ein traditionelles Buch in der Regel durchlaufen, um in die Welt zu gelangen. In der LIO fallen diese Schritte weg.
Bislang stehen etwa 100 Beiträge in den Regalen der LIO. Je nach Präsentationsanlass wird der Bestand in Räumlichkeiten gezeigt, in denen Tische, Stühle, Bücherregale und Sofas stehen – und oft auch ein Fotokopierer, mit dem Nutzer die Werke oder Teile davon vervielfältigen können.
Suchen und Finden als politisches Projekt
Erstmals öffentlich präsentiert wurde die LIO 2016 im Rahmen einer Ausstellung in Göteborg, Schweden, die der Künstler Gabo Camnitzer kuratierte. Die Ausstellung «Meaning Making Meaning» stellte, ausgehend von Felix Guattari, die Frage, wie kann man ein Kunstwerk zum Leben erwecken könnte, als wäre es ein Klassenzimmer? Diese Frage hat Guattari in «Chaosmosis – An Ethico-aesthetic Paradigm“ bekanntlich genau umgekehrt gestellt: Wie kann man ein Klassenzimmer zum Leben erwecken als wäre es ein Kunstwerk?
Der Nexus zwischen einem Klassenzimmer und der Bibliothek ist wichtig, weil wir im Klassenzimmer lernen – durch Ressourcen und Referenzen, die uns dort zur Verfügung stehen. Aber wir setzen uns dort nur selten kritisch damit auseinander, was uns beim Lernen eigentlich nicht zur Verfügung steht, geschweige denn mit den Mechanismen, die festlegen, was uns als Lernmittel zur Verfügung gestellt wird. Wir lernen also oft auf der Basis von Ressourcen und Referenzen, die ihrerseits blinde Flecken aufweisen können. Schliesslich haben alle Ressourcen und Quellen, ob Lehrer:innen, Bibliotheken oder auch das Internet, ihre Leerstellen.
In jedem Lernraum gilt es also kritisch gegenüber der Frage zu bleiben, wie wir Wissen abrufen. Im Syllabus – Teaching the Radical Catalogue, den ich zusammen mit der Autorin und Kuratorin Lucie Kolb, und vielen Künstler:innen, Aktivist:innen, und Bibliothekar:innen für die Ausstellung «Reading the Library» im Sitterwerk, St. Gallen, erarbeitet habe, gehen wir vertiefend auf diese Fragen ein. Insbesondere das Gespräch mit Emily Drabinski, Bibliothekarin der Cuny-Bibliothek der New York University, ist hier relevant (Syllabus Session 1: «People don’t think of information retrieval as a political project») In dem Interview erläutert sie, dass die von Bibliotheken ihren Nutzern vorgezeichneten Praktiken des Suchens und Findens sowie die Beschaffung von Informationen als auch der Aufbau und die Pflege des Bestands ein politisches Projekt ist. Genau das sollte eine Erkenntnis in jedem Lernraum sein.
Ausschluss, Auslassung und vorausgesetzte Normen
Das Wort «omission» (Auslassung, Leerstelle) ist wichtig, um zu verstehen, wie die LIO funktioniert. Denn der Begriff unterscheidet sich von «exclusion» (Ausschluss), dem bewussten Akt, jemanden oder etwas abzudrängen. Die Auslassung geschieht im Vergleich dazu indirekt oder passiv – wie eine Unterlassung. Diese Indirektheit, die nicht weniger gewalttätig ist als der aktive Ausschluss, interessiert mich, denn der Akt der «Omission» ist schlicht nur weniger sichtbar.
Emily Drabinski führt in ihrem Text «Teaching the Radical Catalog“ (Den radikalen Katalog lehren), der eine wichtige Quelle für das Syllabus-Projekt war, ein gutes Beispiel an. Sie berichtet von einer Informationsveranstaltung für Studenten der Geschichte afroamerikanischer Frauen im Jahr 2008. In der Veranstaltung hob eine Studentin die Hand und fragte, ob Studierende, die sich speziell für die Geschichte weisser Frauen interessierten, den Katalog mit dem Begriff «weiss“ durchsuchen müssten. Natürlich ist es in den meisten Bibliotheken derzeit nicht der Fall, dass «weiss“ im Bibliothekskatalog als Suchkategorie gleichgestellt ist mit vielen anderen, darunter etwa «afroamerikanisch». Stattdessen wird «weiss» als Norm vorausgesetzt, von der aus die Katalogkategorien von Bibliotheken abgeleitet werden. Da wir diese Herangehensweise als Nutzer nicht wirklich durchschauen, ist die Arbeit des Syllabus relevant, denn er macht auf diese Versäumnisse und ihre direkten Folgen aufmerksam – damit sie erkannt und gelernt werden können.
Vielstimmigkeit im sozialen Kommunikationsraum
Wie funktionierte der Aufruf, zur LIO mit einer Ausleihe beizutragen, also konkret? In einem Einladungsschreiben, das auch öffentlich ausgehängt wird, beschreibe ich die Materialien, die für ein solches Projekt relevant wären. Im Text bitte ich die potenziellen Beiträger:innen, der LIO ein Buch, einen Text oder eine andere Form der Veröffentlichung für einen temporären Leseraum auszuleihen. Ich beschreibe als Hintergrund, dass damit ein sozialer Kommunikationsraum geschaffen werden soll, der einen unkonventionellen Wissens- und Erfahrungsschatz beherbergt, den die Beitragenden zur LIO, aber auch ihre Nutzer selbst schaffen. Ich führe weiterhin aus, dass sich die LIO besonders für Schriftstellerinnen, vergessene Schauplätze der Geschichte, intersektionale Praktiken sowie für Material interessiert, das in unseren etablierten Bibliotheken und Datenbanken fehlt - weil es nicht dem etablierten westlichen Kanon von Bibliotheken oder Verlagen entspricht oder aus anderen Gründen marginalisiert ist.
Dieses Poster, ins Englisch, Arabische und Schwedische übersetzt, wurde online verbreitet, und gedruckte Flyer und Plakate wurden in öffentlichen Räumen, Schulen, Universitäten, Museen, unabhängigen Kulturräumen und Gemeindezentren in Göteborg und seinen Vororten aufgehängt, um möglichst viele Mitwirkende aus verschiedenen Bereichen (Backgrounds) und mit möglichst diversen Erfahrungen zu erreichen. Hier geht es also um eine Vielfalt von Perspektiven. Inwieweit das funktioniert hat, diskutiere ich im Gespräch mit Lucie Kolb «Thinking the library through its readers». (Syllabus, Session 3)
Der Katalog sagt: Komm, ich zeig dir was!
Ein weiterer wichtiger Aspekt der LIO ist die Beschäftigung mit dem Beschreiben, dem Ordnen, Kategorisieren von Wissen – um es auffindbar zu machen. Diese Arbeit wird oft als neutral und objektiv angesehen – es ist aber naturgemäss subjektiv, und oft mit Vorurteilen und Prioritäten derjenigen Person behaftet, die ein Buch für eine Bibliothek erfasst und katalogisiert.
Für die LIO werden die Katalogeinträge nicht von einer zentralen bibliografischen Stelle geschrieben, welche die Inhalte eines Buches mit Schlagwörtern versieht, sondern von den Personen, die das Buch in die LIO gebracht haben und es mit jemandem teilen wollen. In der LIO wird der Bestand somit auf völlig neue Weise organisiert, beschrieben und katalogisiert. Und das ist, im Nachhinein betrachtet, vielleicht der wichtigste Aspekt des Projekts.
Denn ich habe die Beitragenden zur LIO gefragt: «Was würdet Ihr gerne einer solchen Sammlung hinzufügen? Welche Bücher, Romane, Gedichte, Kommentare, wissenschaftlichen Aufsätze oder selbst veröffentlichten Texte sind für euch relevant, verändern euer Denken über euch und die Welt oder eröffnen einen neuen Horizont? Bitte legt ein Kärtchen in das Buch, auf dem Ihr kurz erläutert, warum Ihr es ausgewählt habt». Ich habe diese kurzen Ausführungen auf gelbe Karten gedruckt, die den Büchern nach der Aufnahme in die LIO beiliegen. Die Kärtchen fungieren als eine Art Einstieg in die Bücher. So, als würde dir jemand die Hand reichen und sagen: «Komm mit – ich zeig dir was!» In den Kärtchentexten findet also eine Verlagerung statt – es wird nicht mehr versucht, primär den Inhalt einer Publikation zu beschreiben, sondern eher seine Wirkung.
Der so erzeugte Katalog der LIO benutzt natürlich keine kontrollierte Verschlagwortung wie die meisten Bibliotheken. Dieser Katalog ist vielstimmig. Er entsteht durch die Summe der Beschreibungen aller Mitwirkenden. Der Stil, in dem diese Beschreibungen verfasst werden und die Art und Weise wie sie geteilt werden, variiert stark - was den Reichtum des LIO-Katalogs ausmacht. Die Beschreibungen lassen die anderen Leser:innen an den Entdeckungen, Widerständen oder Hoffnungen, die mit der bereitgestellten Publikation verbunden sind, teilhaben. Hier verwandelt sich ein Bibliothekskatalog von einem technischen Organisationsinstrument zu einem Akt des Erzählens.
Tritt der Diskurs an die Stelle von Autor:innen?
Fast könnte man sagen, dass es in der LIO mehr um Menschen als um Bücher geht. Es geht um die Leser:innen, und darum Bezüge zu schaffen – um das sich in Verbindung setzen durch ein Buch. Es wäre interessant, diesen Gedanken weiterzudenken: Könnte man das Prinzip einer Bibliothek, einer Sammlung veröffentlichten Wissens, weniger entlang von Autor:innennamen und Inhalten ordnen, sondern mehr entlang der Wirkung, welche die Publikationen auf ihre Leser:innen haben?
Was passiert, wenn die Rolle der Autor:in in der Bibliothek dezentralisiert wird? Denn fast alles basiert auf den Namen von Autor:innen und ist in der Bibliothek um deren Namen herum organisiert. Es ist also die zentrale Figur. Selbst wenn es multiple Autor:innenschaft gibt, wird zum Beispiel, nach der Reihenfolge der Namen gefragt. Ist diese alphabetisch oder nach Wichtigkeit? All diese Dinge haben eine Bedeutung, sie validieren, weisen Autor:innenschaft und Autorität zu.
Gelänge es also, die Rolle der Autor:innen in der Bibliothek durch die Rolle der Leser:in zu dezentralisieren, würde ich nicht vorschlagen wollen, dass die Leser:in nun zum neuen Dreh- und Angelpunkt wie ehemals die Autor:in wird. Denn damit wären wir wieder am Anfang angelangt. Aber eine solche Verschiebung hätte doch etwas erreicht: Denn wenn wir mehr über den Diskurs sprechen, den das Buch erzeugt, statt über Inhalte und Autor:innen, dann sind wir bei Foucault angekommen und seinem Aufsatz: «Was ist ein Autor?» Er hat diese Frage in den 70er Jahren gestellt. Aber wir haben sie immer noch nicht befriedigend beantwortet. Ein Grossteil unsere Infrastrukturen und Systeme zur Aufbereitung und Verfügbarmachung von Wissen beruhen immer noch zu sehr auf der Idee von individueller Autor:innenschaft. Hier ist es Zeit für einen Wechsel.
Ressourcen und Referenzen
Emily Drabinski. «Teaching the Radical Catalog». In «Radical Cataloging: Essays at the Front», edited by K. R. Roberto. Jefferson, North Carolina: McFarland, 2008
Emily Drabinski, Lucie Kolb and Eva Weinmayr. «People don’t think of information retrieval as a political project». In «Teaching the Radical Catalogue – A Syllabus», 2021. https://syllabus.radicalcatalogue.net/session1.html
Michel Foucault. «What is an Author?». In «Language, Counter-Memory, Practice: Selected Essays and Interviews», edited by Donald F. Bouchard, 113–38. Ithaca, NY: Cornell University Press, 1980
Felix Guattari. «Chaosmosis - an ethico-aesthetic Paradigm». Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press, 1995
Lucie Kolb, Eva Weinmayr. «Teaching the Radical Catalogue – A Syllabus», 2021. https://syllabus.radicalcatalogue.net/
Lucie Kolb, Eva Weinmayr. «Session 3: Thinking the library through its readers». In «Teaching the Radical Catalogue – A Syllabus», 2021. https://syllabus.radicalcatalogue.net/session3.html
Eva Weinmayr. «The power to name and frame», Unbound Libraries Documentation, Brussels: Constant, June 2020. https://constantvzw.org/wefts/unboundlibraries-eva.en.html