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Im Februar 2023 fand in der Kunstbibliothek die Tagung "The Annotated Library" statt, die zugleich den Abschluss der Ausstellung "OK Computer – Sprachen der Ordnung" bildetet. Im Zentrum der Tagung standen Fragen nach den Spuren von Nutzer und Nutzerinnen und der Erschliessung der Inhalte durch eben diese Spuren. Hannes Mangold hat die Tagung aufmerksam begleitet und eine rückblickende Reflexion verfasst.
Eine Bibliothek ist mehr als die Summe ihrer Bücher. Eine Bibliothek ist ein eigenes medientechnisches und soziales Artefakt. Davon erzählen die Annotationen, auf die unweigerlich stösst, wer Bücher mit anderen teilt. Diese Beobachtung diente dem Symposium «The Annoted Library» als Ausgangspunkt, um im Februar 2023 die soziotechnischen Dimensionen einer Bibliothek auszuleuchten. Die Kunstbibliothek der Stiftung Sitterwerk bildet dafür einen idealen Experimentalraum. Schliesslich hat sie mit der Werkbank und der dynamischen Ordnung zwei Anwendungen in Betrieb, die genau auf das Hinterlassen und Wiederauffinden von Nutzer:innenspuren ausgelegt sind und dazu beitragen, verschüttete Lektürepfade früherer Besucher:innen in den Fokus zu nehmen, aufzuzeichnen und zugänglich zu halten.
Das Symposium markierte ausserdem den Abschluss der Ausstellung «OK Computer – Sprachen der Ordnung». Darin hatte die Kunstbibliothek zur Diskussion gestellt, wie weit Suchresultate durch das jeweils angewendete Suchsystem definiert sind – wie ihnen inhärent ist, dass sie Neues und Unerwartetes nur innerhalb klar strukturierter Grenzen ermöglichen können. Eine Fluchtlinie, um diese Grenzen zu überwinden, fanden die Hosts Barbara Biedermann und Roland Früh in den Annotationen: Anmerkungen, Randbemerkungen und Lesespuren, die eine Bibliothek mit diversen weiteren, individuellen und in der Regel so unsichtbaren wie vielschichtigen Klassifikationslogiken durchziehen.
Die TETI Group eröffnete das Symposium mit einem ersten Streifzug durch die bibliothekarische Logik. Anne-Laure Franchette und Gabriel Gee permutierten die Ordnung klassischer Katalogfunde, indem sie diese in einer kollektiven Schreibübung seriell bearbeiten und in neue Texte überführen liessen.
Auf diesen Versuch, im sozialen Austausch neue Zugänge zu kreieren, folgten Präsentationen von zwei Anwendungen, die von informationstechnologischen Medien ausgingen, um Spuren zu finden und zu hinterlassen: Zunächst stellte Urs Hofer den Prototyp seiner App «X-Y-Z» vor. Wer diese nutzt, kann einzelne Bücher erfassen und die persönlichen Notizen dazu mit der Community teilen. Per Handykamera lassen sich Buchseiten scannen und annotieren. Über die automatische Texterkennung wird jede in der App gescannte Seite individuell erfasst. Wenn eine neue Person dieselbe Seite einliest, wird das erkannt und eine Verbindung zwischen den Nutzenden hergestellt. Wer das gleiche liest, findet zusammen. Indem das Bild nur lokal gespeichert wird, birgt die App das Potential, über Anmerkungen mit Leser:innen von Ausgaben desselben Buchs auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten, ohne das Urheberrecht zu verletzen. Dabei spielt auch die automatische Textgenerierung eine wichtige Rolle: Eine künstliche Intelligenz, über deren disruptive Kräfte spätestens seit dem Release von Chat GPT nicht mehr nur Spezialist:innen diskutieren, stellt den Nutzer*innen Schlagworte zur Auswahl.
Als abgeschlossenes System präsentierte dagegen Jürg Lehni seine Installation «Otto». Mit gewöhnlicher Schulkreide überträgt die Zeichenmaschine Zeichnungen auf eine grosse Wandtafel. Dabei folgt er der Choreografie einer von Lehni eigens entwickelten Software. Durch seine Materialität und Mechanik ergründet «Otto» nicht zuletzt das poetische Potential der Maschine. Für die Ausstellung und während Lehnis Lecture Performance zeichnete «Otto» Grafiken aus «A Taxonomy of Communication». Diese Serie hatte Lehni ursprünglich zusammen mit Jenny Hirons für das San Francisco Museum of Modern Art gestaltet.
Die unweigerlich anschliessende Frage nach der patriarchalen Logik soziotechnischer Wissenssysteme stellte Mindy Seu. Seu präsentierte den von ihr edierten Cyberfeminism Index, eine Dokumentation des Cyberfeminismus’, die sie in partizipativer Arbeit erstellt und durch ein ausführliches System der Kreuzreferenzen erschlossen und sowohl als Webseite wie auch als Buch veröffentlicht hat, das den Leser:innen eine Vielzahl an Lektüreserien über die interne Verweisstruktur anbietet. Den Abschluss des Symposiums besorgte wiederum die TETI Group. Gabriel Gee und Jan van Oordt stellten die Mikrobibliothek in la dépandance im jurassischen St. Imier vor, die als Kleinstsammlung sowohl über eine enge persönliche Prägung durch ihre Nutzer:innen verfügt, als auch in ihrer eigenen Topographie zum begehbaren Ausstellungsobjekt gemacht worden ist und damit den zugleich kollektiven und individuellen Charakter einer Sammlung in den Raum übersetzt hat.
Wer eine Bibliothek benutzt, hinterlässt Spuren. Das Symposium «The Annoted Library» machte deutlich, dass diese das Potential bergen, auf technischen und sozialen Pfaden die einer Bibliothek inhärente Such- und Findstruktur zu transzendieren. Gerade weil die Erschliessung Zugänge zu Büchern legt, verschleiert sie paradoxerweise andere. Durch die Arbeit mit Annotationen zeigten sich diverse alternative Routen. Ihnen gemeinsam war, dass sie in eine Gemeinschaft von Leser:innen und Schreiber:innen führten. Damit machten sie jenen doppelten Zauber erlebbar, dass weder ein Schreibort und eine Schreibzeit noch ein Lektüreort und eine Lektürezeit existieren, sondern dass es deren vieler gibt. Die Spuren, die wir finden, und die Spuren, die wir hinterlassen, beweisen es: Auf unseren einsamen Suchen nach Wissen sind wir nie allein. Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die den Zauber der Bibliothek ausmacht.
Hannes Mangold ist Ausstellungskurator und Verantwortlicher Kulturvermittlung bei der Schweizerischen Nationalbibliothek.
Weitere Informationen zu
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Jürg Lehni
Urs Hofer
Mindy Seu
Die Ausstellung "OK Computer – Sprachen der Ordnung" und die Veranstaltung "The annotated Library" wurden unterstützt durch Kanton St.Gallen Kulturförderung / Swisslos, Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung, Walter und Verena Spühl Stiftung, Methrom Stiftung, Dr. Fred Styger Stiftung und Billwiller Stiftung.