Sittertalstrasse 34
CH-9014 St.Gallen
+41 71 278 87 09 (MO–FR)
+41 71 278 87 08 (Sonntag)
post@sitterwerk.ch
Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag, 9–17 Uhr
Sonntag, 14–18 Uhr
Samstag geschlossen
Vom 20. bis 23. März haben Iva Rešetar und Léa Perraudin der interdisziplinären Forschungsgruppe Matters of Activity der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der Reihe “Mein ABC ist…” die Bestände im Sitterwerk umgeordnet. Ihre Intervention in der Buch- und Materialsammlung war von der Suche nach Aktivität in Materialien geleitet und den Mechanismen von Kontrolle und Kooperation in unserem Umgang mit ihnen und über den Bereich menschlicher Einflussnahme und Wahrnehmung hinaus.
Der Exzellenzluster Matters of Activity. Image Space Material hat das Ziel, Grundlagen für eine neue Kultur des Materialen zu schaffen. Die zentrale Vision des Clusters ist es, im Zeitalter des Digitalen, das Analoge in der Aktivität von Bildern, Räumen und Materialien neu zu entdecken. Dabei verschränken sich Biologie und Technik, symbolische Formen und Material, Natur und Kultur in neuartiger Weise. Mehr als 40 Disziplinen untersuchen in sechs Projekten systematisch Designstrategien für aktive Materialien und Strukturen, die sich spezifischen Anforderungen und Umgebungen anpassen. Der Cluster setzt auf eine neue Rolle von Gestaltung, die sich vor dem Hintergrund einer wachsenden Vielfalt und der stetigen Weiterentwicklung von Materialien und Visualisierungsformen in allen Disziplinen abzeichnet.
Während dem viertägigen Rechercheaufenthalt im Werkstoffarchiv und in der Kunstbibliothek gingen die Architektin Iva Rešetar und die Medientheoretikern Léa Perraudin der Frage nach inwiefern Materialien an ihre Kontexte gebunden sind, wie sie Prozesse offenlegen und sich im Laufe der Zeit wandeln. Dabei stellten sie vor allem die allgemein vorherrschende Auffassung von Materialien als stabile und standardisierte Einheiten in Frage. Materialarchive als Wissensspeicher beschränken sich oft auf das Sammeln von haltbaren und isolierten Proben und konzentrieren sich auf Praktiken, die Veränderungen möglichst ausschliessen oder verhindern. Gerade darin liegen jedoch Indizien für Materialflüsse und grössere sozio-ökologische Zusammenhänge.
Mit ihrer Neuanordnung der Bestände untersuchten Iva Rešetar und Léa Perraudin, inwiefern Archive den Zugang und die Erfahrung solcher Aktivitäten in Materialien – wie Phasenübergänge, Wachstum oder Verwitterung – ermöglichen und wie die Muster auf materielle Prozesse ausserhalb der Sammlung verweisen.
Als vorläufiges Ergebnis dieser Spurensuche resultierte eine Auslegeordnung, die von links nach rechts oder gegenläufig gelesen werden konnte. Zwischen den Tischen, dem Boden und den dahinter liegenden Regalen verwoben sich Narrative von Materialien und ihrem Gebrauch, ihrer Verarbeitung und ihren Hinterlassenschaften.
Einen Schwerpunkt bilden Fragen der Skalierung, die vom biologischen Wachstum von Zellulosematerialien und der symbiotischen und kollaborativen Herstellung von bakterieller Zellulose bis hin zu Fertigungstechniken reichen, die die Materialeigenschaften auf molekularer Ebene kontrollieren und funktionalisieren. Darüber hinaus wird Wachstum als zentrales Konzept verhandelt, das sowohl organisches Wachstum als auch anorganische Ansammlungen (Staub, Kondensation) sowie sozioökonomisches Wachstum und dessen Grenzen umfasst. Ausserdem werden materialpolitische Spannungsverhältnisse von globaler Reichweite – Infrastrukturen und Veränderungsprozesse im Anthropozän – adressiert und anhand von Resten und Verwitterung sowie Praktiken des Sammelns und Pflegens ein ortsspezifischer Blick zurück auf das Sitterwerk gerichtet.
Auszüge der temporären Auslegeordnung von Büchern und Materialmustern sind über vier digitale Zusammenstellungen im Sitterwerk-Katalog einsehbar und mit Zitaten des öffentlichen Gesprächsabends erweitert:
Wachstum, Kooperation und Kontrolle (Zellulose)
Energie und Phasenübergänge (Wachs, Wasser)
Verwitterung, Transformation und Zerfall (Metall, Erde)
Sammeln (Akkumulation) und Pflege (Schmutz, Staub, Luft)
Léa Perraudin ist Medientheoretikerin und Postdoc am Exzellenzcluster »Matters of Activity« der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsinteressen umfassen Environmental Humanities, queer-feministische Technologieforschung, (Medien-) Infrastrukturen des Anthropozäns, experimentelle Kulturen in Medien, Kunst und Design sowie diffraktive Praktiken des Wissens, Schreibens und Machens. In Ihrem Habilitationsprojekt legt Léa eine Theorie der Phasenübergänge des Medialen vor, das Medieninfrastrukturen in zeitgenössischen technokapitalistischen Umgebungen durch situierte Phänomene von Flüchtigkeit, Zerstreuung, Überfülle und Erstarren analysiert.
Iva Rešetar ist Architektin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Matters of Activity« der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie studierte Architektur an der Universität Belgrad und an der Städelschule in Frankfurt am Main und lehrte und forschte unter anderem an der Akademie Schloss Solitude, der Weissensee Kunsthochschule Berlin und an der Universität der Künste Berlin. Ihr jüngstes Buch, Breath: Morphologische, ökologische und soziale Dimensionen, herausgegeben mit Linn Burchert, bietet interdisziplinäre Perspektiven auf die Respiration und das kritische Medium der Luft in Zeiten des Klimawandels. Zu ihren Forschungsinteressen ge-
hören digitales und experimentelles Design, faserige Architekturen, Gestaltung mit thermodynamischen Prozessen sowie Umweltgeschichte und Praktiken in der Architektur.