Etikett der ehemaligen Deutschen Staatsbibliothek in Ost-Berlin zur Auszeichnung eines Zensurexemplars, das als solches aufgrund entsprechender Vorschriften nur eingeschränkt oder nicht für die Benutzung zur Verfügung stand. [Quelle: Provenienz-Wiki des GBV]
Philipp Messner, wissenschaftlicher Archivar und Leiter der Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel hat im Rahmen des Workshops «Ortspezifisches Vokabular: der Katalog» vorgeschlagen, archivische Methoden auf den Bibliothekskatalog zu übertragen. In seinem Essay führt er diese Überlegungen aus.
3. Dezember 2024
Philipp Messner
Der Archiv- und Sammlungsbereich, in dem ich arbeite, ist weit weniger übergreifend standardisiert als der Bibliotheksbereich. Es haben sich hier vielerorts institutionenspezifische Erschliessungstraditionen erhalten, die als solche weniger in Richtung einer wünschenswerten Pluralität weisen, als dass sie ein grosses Hindernis darstellen, wenn es um die Vernetzbarkeit von Verzeichnisdaten geht. Eine solche Vernetzung ist im Interesse vor allem derjenigen Nutzer:innen, die etwas suchen, ohne bereits vorher zu wissen, in welcher Institution sich das Gesuchte am Ende findet. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Frage des Workshops nach einer ortsspezifischen Verzeichnung weniger im Sinne der Entwicklung eines ‹eigenen› Vokabulars, sondern möchte vielmehr versuchen, ortsspezifische Kontexte miteinzubeziehen. Ich möchte vorschlagen, die Bibliothek als Archiv zu denken, den Blick auf ihr ‹Gewordensein› als Sammlung zu richten, und danach zu fragen, wie dies in einem Katalog adäquat abgebildet werden könnte.
Unterschiedliche institutionelle Traditionen
Wenn ich vorschlage, die Bibliothek ‹als Archiv zu denken›, setzt das einen Begriff des Archivs voraus, der damit nicht einfach unterschiedliche Formen gesammelter oder angesammelter Dinge bezeichnet, sondern eine ganz bestimmte, durch spezifische Traditionen und Methoden definierte Form der Organisation historischer Überlieferung. Gemäss einem solchen engeren Archivbegriff wäre dieses eine Einrichtung, die Unterlagen, die im Zusammenhang mit einer spezifischen Tätigkeit entstanden sind, aber im Rahmen dieser Tätigkeit nicht länger benötigt werden, übernimmt, bewertet und die als ‹archivwürdig› klassierten Teile dauerhaft zur Verfügung hält. In anderen Worten: Im Fokus des Archivs stehen weniger Objekte als solche, sondern Prozesse, deren materiellen Spuren hier in historischer Perspektive gesichert werden. Auch wenn das Archiv im engeren Sinn traditionellerweise mit Verwaltungsvorgängen verbunden ist, kann es sich bei den Prozessen, auf die es als Einrichtung ausgerichtet ist, ebenso um Produktionsprozesse wie um wissenschaftliche oder künstlerische Prozesse handeln.
Aus der Ausrichtung des Archivs auf prozessgenerierte Information resultiert eine Verzeichnungstradition, welche die zu verzeichnenden Informationsobjekte immer in Relation zu anderen Informationsobjekten beschreibt, da für eine angemessene Interpretation von Archivgut zwingend Wissen über seine Entstehungs- und Nutzungskontexte benötigt wird. Die Aufgabe einer Bibliothek ist dagegen das Vorhalten nicht prozess- sondern vielmehr autor:innengenerierter Information, Texte, die für unbekannte Leser:innen verfasst wurden und aus sich selber heraus verstehbar sein sollten. So kennt der Bibliothekskatalog auch keine den archivischen Findmitteln vergleichbare Tradition der Kontextualisierung. Dazu kommt, dass es sich bei Büchern – dem historischen Kerngeschäft der Bibliothek – nicht um unikales Material wie es bei Archivgut der Fall ist, sondern um ein massenproduziertes Gut handelt. Der Massencharakter des Buchs hat insofern Konsequenzen für die bibliothekarische Katalogisierung, dass diese im Normalfall nicht auf das einzelne Buch als konkretes Objekt abzielt, sondern auf den abstrakten Titel. Dieser wird in einem bestimmten Bibliotheksbestand nachgewiesen, das konkrete Buch über seine eindeutige Signatur hinaus aber kaum weiter ‹individualisiert›.
Die umfassende Digitalisierung der bibliothekarischen Kataloge und archivischer Findmittel hat nun aber dazu geführt, dass die Unterschiede zwischen archivischer und bibliothekarischer Verzeichnungspraxis heute weit weniger eindeutig sind, wie noch vor 20 Jahren. Nicht zuletzt existiert gegenwärtig mit dem ‹Semantic Web› ein Modell das grundsätzlich für beide Institutionstypen Gültigkeit behaupten kann, wobei die Archive von einer flächendeckenden Implementierung der hierbei vorgesehenen, fragmentierten mensch- und maschinenlesbaren Verzeichnungsdaten, allerdings deutlich weiter entfernt sind. Auch wenn die spezifischen Traditionen und das aus diesen resultierende unterschiedliche fachliche Selbstverständnis von Bibliothekar:innen und Archivar:innen durch das Paradigma des ‹Semantic Weg› keineswegs hinfällig werden, werden die professionellen Methoden doch zunehmend durchlässig.
Die Bibliothek als Archiv denken
Neben dem Übergreifen des Prinzips der Vernetzbarkeit von Verzeichnungsdaten von den Bibliotheken zu Sammlungen und Archiven ist in jüngerer Zeit aber auch eine Tendenz zu beobachten, die in die andere Richtung weist: Verschiedentlich rückt in Bibliotheken das Buch nicht bloss als Titel, sondern als einzelnes Exemplar mit einer individuellen Geschichte in den Fokus, womit bei der Katalogisierung ähnliche Probleme auftreten, wie sie Archive oder andere Sammlungen mit unikalem Material bei der Verzeichnung beschäftigen. Um solche Fragen geht es zum Beispiel im Zusammenhang mit der NS-Raubgutforschung, von der in Deutschland auch öffentliche Bibliotheken betroffen sind, die in der Zeit des ‹Dritten Reichs› Bücher aus vormalig jüdischem Eigentum in ihre Bestände aufgenommen haben. Methodische Hilfestellung bei der Identifikation solcher Bücher gibt die ‹Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschliessung› im Deutschen Bibliotheksverband, welche sich darüber hinaus aber auch allgemein mit Fragen der Provenienz beschäftigt. In der Selbstdarstellung der Kommission wird auf die oftmals beziehungsreiche Geschichte alter Bücher verwiesen. «Hinter Anmerkungen, Stempeln und Nummern verbergen sich Namen, zerstreute Sammlungen, Bücherraub oder Bücherverschenkung. Durch diese Spurenvielfalt werden historische Bibliotheksbestände zu vielschichtigen Kulturgütern.» Die Kommission verfolgt das Ziel, in Bibliotheken die zur Erforschung und Erschliessung von Provenienzen notwendigen Kompetenzen zu schaffen und zu erhalten. Ebenfalls um das Schicksal einzelner Bücher geht es bei der digitalen Erschliessung der Lesespuren von Thomas Mann in seiner Privatbibliothek, die heute am Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich verwahrt wird. Sowohl die Frage nach den Lesespuren wie auch die der Provenienz, ist eine Frage danach, was mit einem Buch gemacht wurde bzw., wie es benutzt wurde – und damit eine Frage nach Prozessen, die sich als Spuren in das Buch als physischem Objekt eingeschrieben haben.
Solche Ansätze, die das Buch als ‹Spurenträger› verstehen und damit die Bibliothek eigentlich archivisch denken, könnten nun auch für die Kunstbibliothek im Sitterwerk produktiv gemacht werden indem der Bibliothekskatalog um sammlungsspezifische Informationen ergänzt wird. Damit würde in den Bibliothekskatalog eine Form der ‹Ortsspezifik› eingeführt, wie sie bislang nur vereinzelt für sehr alte Büchersammlungen oder solche mit ausgesprochen prominenten Vorbesitzer:innen oder Beständen mit einer überaus problematischen Geschichte Verwendung findet.
Konkret möchte ich also vorschlagen, dass im Katalog der Kunstbibliothek zu den Publikationen auch ihre Provenienz verzeichnet wird. Dazu müssen diese aber nicht bloss als Titel, sondern als Exemplar verzeichnet werden – dies wäre wohl im Rahmen der für den Informationsverbund Deutschschweiz (IDS) und seiner Partnerverbünde gegenwärtig geltenden Katalogisierungsregeln ‹Resource Description & Access› (RDA) im Sinne einer zusätzlichen Verzeichnungsstufe möglich.
Den archivpraktischen Erfahrungen bei der Kontextualisierung von Informationsobjekten folgend wäre eine solche Verzeichnung exemplarspezifischer Provenienzen allerdings um eine Entität ‹Sammlung› zu ergänzen. Das entspräche nicht nur der archivischen Tradition einer mehrstufigen, Erschliessung sondern auch der Logik des Sematic Web. Eine solche Verzeichniseinheit wäre einerseits mit einer oder mehreren für ihre Entstehung verantwortlichen Personen oder Körperschaften zu verknüpfen und anderseits mit den zugehörigen, auf Ebene ‹Exemplar› erfassten, Publikationen. Auf diese Weise könnten beispielsweise die für die Kunstbibliothek grundlegenden Privatsammlungen von Daniel Rohner und Felix Lehner im heutigen Bibliotheksbestand sichtbar gemacht und die Bibliothek damit in ihrem spezifischen Gewordensein lesbar gemacht werden. Eine solche Beziehung zwischen Buch und Sammlung kann durch eine zeitliche Dauer näher definiert werden, womit auch die Möglichkeit der Abfolge verschiedener Zugehörigkeiten gegeben ist.
Dieser Logik folgend kann im Katalog prinzipiell auch die ein- oder mehrmalige Zugehörigkeit eines Buchs zu einer ‹Zusammenstellung› verzeichnet werden – oder auch andere Formen digitaler Lesespuren, die als solche vom System automatisch registriert werden. Auf diese Weise wird nicht nur die bisherige Geschichte eines Buchs, sondern auch seine fortlaufende Nutzung dokumentiert – entsprechend dem im Workshop geäusserten Gedanken, dass ein Buch nicht als ein isoliertes Objekt zu verstehen ist, sondern vielmehr als die Gesamtheit seiner Leser:innen. Bei den Überlegungen, wie solche Aspekte in den Katalog integriert werden könnten, ist allerdings immer abzuwägen, ob das Interesse der Nutzer:innen, ihre intellektuelle Neugier in einer Bibliothek möglichst unbeobachtet befriedigen zu können, nicht höher zu werten ist, als unser Interesse an einer Aufzeichnung der digitalen Nutzungsspuren.