Die Ordnung der Worte — Oder wie wir suchen und finden
Wenn wir von Ordnungen in Bibliotheken sprechen, denken wir oft an fein säuberlich angeschriebene Bücherregale und wie die Bücher darin platziert sind. Bei der dynamischen Ordnung der Kunstbibliothek ist das nicht anders: Sie beschreibt die physische Ordnung der Bücher im Regal – nur können diese beliebig rausgezogen und in neuen Kombinationen wieder ins Regal zurückgestellt werden und bilden so vergangene Suchen ab. Die zurückbleibenden persönlichen Handapparate laden Besucher*innen ein, am Regal in diese Recherchen einzutauchen und auf thematisch naheliegende Titel genauso zu treffen, wie auch auf Überraschendes und Unerwartetes.
Anders gestaltet sich die Suche, wenn wir im online Katalog einen bestimmten Titel, ein Material oder Literatur zu einem Themenbereich finden wollen. Was wir finden, hängt nicht nur von der Treffgenauigkeit der eingegebenen Begriffe, sondern auch von der Vollständigkeit der hinterlegten Informationen und den Schlagworten ab, die den Objekten zugeordnet sind. Was unterscheidet die Suche im Katalog von der Suche am Regal? Welche Strategien sind wann hilfreich und produktiv? Welche sozial und historisch produzierten Ordnungen und Hierarchien liegen dem Katalog zugrunde?
In zwei Veranstaltungsreihen ist die Stiftung Sitterwerk im Frühjahr 2021 diesen Fragen nachgegangen: Die online Gesprächsreihe «Finders Keepers: Search» — eine Fortsetzung und Schärfung der Gesprächsreihe «Finders Keepers» vom Winter 2020 — und die Workshop-Reihe «Kunst Produktion Sprache».
Durch die Nähe zur benachbarten Kunstgiesserei ist es für die Stiftung von Interesse, eine gemeinsame Sprache zu finden, die Produktionsprozesse mit Büchern und Materialien verbindet und das Wissen vor Ort abbildet, resp. findbar macht. Braucht es dafür ein eigenes Vokabular, oder kommen wir da mit den Normdaten aus Bibliothekskatalogen zu den gewünschten Verschlagwortungen? Was wären die Parameter des Ortsspezifischen? Diese und weitere Fragen nach einem ortsspezifischen Vokabular beschäftigten uns insbesondere in der Workshop-Reihe.
Finders Keepers: Search
Wie schon die Gesprächsreihe im Winter 2020 stellte auch «Finder Keepers: Search» die Nutzer- und Nutzerinnenseite in der Arbeit mit Sammlungen und Archiven ins Zentrum und fügte durch den Fokus auf die Suche eine Selbstbefragung hinzu: Welche Such-Strategien bringen uns wirklich weiter, in einem Raum mit Büchern, Materialmustern und vielen anderen Objekten und Ablenkungen und was gibt es für alternative Suchstrategien, die wir als Ort initiieren oder anregen können?
Mit «Finders, Keepers: Search» initiierten wir eine Suche nach dem Suchen. In drei Gesprächen diskutierten wir mit Gästen über das Vokabular, das die Suche präzisieren soll, über die Qualität der zufälligen Suchresultate und die Selektion durch normative, einschränkende Strukturen in Bibliothekssystemen.
Den Auftakt machte Patrica Harpring. Sie ist Managing Editor der Getty Vocabularies und sprach in ihrem Referat darüber, wie die Getty Vocabularies entwickelt wurden und wie sie heute angewendet werden. Somit starteten wir mit einer institutionellen Perspektive, die aufzeigt, wie Daten aufbereitet und vernetzt werden. Für uns war von besonderem Interesse mit Patricia Harpring zu diskutieren, wie neue Schlagworte eingeführt werden können und wo Schnittstellen von einem ortsspezifischen und einem globalen Vokabular denkbar und sinnvoll sind.
Die Präsentation steht hier zum Download bereit.
Die Zürcher Autorin, Historikerin und aufmerksame Beobachterin Dorothee Elmiger war unser zweiter Gast. Wir haben sie eingeladen, über die Recherche zu ihrem jüngsten Roman Aus der Zuckerfabrik zu sprechen. Ein Buch, das ausdrücklich immer als Recherche-Bericht bezeichnet wird – im Literaturbetrieb wo Romane und Novellen den Ton angeben eine Besonderheit. Sie erzählte, welche Rolle den verschiedenen Archiven und Bibliotheken zukam, in denen sie Informationen über die koloniale Schweiz, die Geschichte des Glücksspiels, die Geschichte des Zuckers fand und weitete ihre Reflexion in einen poetischen Text über das Suchen und Finden aus und beschrieb ihre Erfahrung, ihre eigenen Bücher im Bibliothekskatalog zu finden und plötzlich durch zwei, drei Schlagworte repräsentiert zu sehen.
Leseprobe Aus der Zuckerfabrik, 2020.
Die Informationswissenschaftlerin und Soziologin Nora Schmidt ist derzeit an der mdw, der Universität für Musik und darstellende Künste, Wien für den Open Access Publikations-Service verantwortlich. 2020 ist ihre Dissertation mit dem Titel The Privilege to Select. Global Research System, European Academic Library Collections, and Decolonization erschienen. Dafür forschte sie über das Wissenschaftssystem und wie dieses Unterscheidungen zwischen Zentrum und Peripherie vornimmt. Insbesondere stehen dabei wissenschaftliche Bibliotheken im Fokus, deren Bestand trotz des Anspruchs von Neutralität, den wissenschaftliche Bibliotheken erheben, durchaus ausschliessend und einschränkend ist.
Diese Forschungstätigkeit ist der Grund, warum wir Nora Schmidt eingeladen haben. Die Kunstbibliothek der Stiftung Sitterwerk ist zwar keine wissenschaftliche Bibliothek, aber nach alternativen Formen der Wissensproduktion und -organisation zu fragen, liegt dem Bestand sozusagen in der Natur. In ihrem Beitrag gab Nora Schmidt eine Übersicht über die Begriffe Kolonialismus, Dekolonialisierung im Kontext von Wissenschaft und präsentierte einen postkolonialen Blick auf Ordnungsstrukturen und Hierarchien in der Wissensorganisation, sowie eine kritische Übersicht über den Umgang mit Open Access.
Die Poster-Präsentation von Nora Schmidt steht hier zur Ansicht zur Verfügung.
Überlegungen für die Dekolonialisierung wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa, 2021, oder Weiteres zu Nora Schmidt finden Sie hier.