Podiumsgespräch zum Relaunch der neuen Datenbank von materialchiv.ch
Das von neun Schweizer Bildungseinrichtungen getragene Netzwerk «Material-Archiv» hat seine Datenbank neu konzipiert und materialarchiv.ch im August 2020 relanciert - quantitativ wie qualitativ angereichert: Dank semantischer Datenarchitektur sind alle Inhalte des Wissensportals nun miteinander verknüpft und lassen sich besser finden und filtern, Werkstoffthemen werden so leichter verständlich. Fachleute aus Architektur, Design, Kunst und Handwerk, aber ebenso die breite Öffentlichkeit dürfen auf eine neue Tiefe der Informationen sowie ein Mehr an Inspiration zählen.
Die inhaltlichen Verbindungen bestehen auch zu den physischen Sammlungen des Verbunds und deren Werkstoffmuster. Doch lässt sich Analoges digital abbilden, physische Qualitäten im Nicht-Physischen vermitteln? Diesen und weiteren Fragen gingen am 18. September 2020 Ann-Sophie Lehmann (Universität Groningen), Mareike Gast (Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle), Max Spielmann (Hyperwerk der FHNW Basel) und Anthon Astrom (Astrom / Zimmer & Tereszkiewicz) nach am öffentlichen Podiumsgespräch «Material denken. Ein Zusammenspiel zwischen Erkennen & Erfahren», das von Meret Ernst (Hochparterre) moderiert wurde.
Begrifflichkeiten und Fragen wie «Was sind in diesem Kontext die Medien?», «Sind Begriffspaare wie analog/digital, haptisch/logisch, materiell/immateriell wirklich Gegensätze?», «Was braucht es, um Materialien digital verfügbar zu machen?» wurden ebenso thematisiert wie Bestrebungen und Grenzen von Wissensordnung und -vermittlung, früher, heute und in Zukunft. Viele dieser Fragen beschäftigen uns auch im Zusammenhang mit der Integration von Produktions- und Entwurfsprozessen in die Kunnstbibliothek, resp. das Werkstoffarchiv.
Nachfolgend einige wesentliche Gesprächspunkte sowie die filmische Dokumentation.
Ann-Sophie Lehmann: «Ein wahrhaftiger Schauplatz der sichtbaren Welt - Materialwissen und die Notwendigkeit der Mediatisierung»
Ann-Sophie Lehmann zeigte auf, dass die Vermittlung von Materialwissen grundsätzlich auf Medien zurückgreifen muss. «Historisch betrachtet ist darum nicht die Tatsache der Mediatisierung an sich neu, sondern die Art und Weise, wie sich verändernde Medien dafür eingesetzt werden.» Das Prinzip von Material-Archiv, die physische Anwesenheit von Materialproben mit einer multimedialen Datenbank zu verbinden, steht damit in der Tradition des jahrhundertealten Bildungsanspruches, sinnliches Erfahrungswissen in vermittlungsfähige Formate zu übertragen. So sind digitale und analoge Materialpräsenz kein Gegensatz, sondern unterschiedliche Positionen innerhalb eines gemeinsamen Spektrums: der Materialwelt. «Es wird erfahrbar, dass heute jedes Material auch eine potenziell digitale Komponente hat. Könnte daher ein Stück Software auch ein Material im Sinne des Archivs sein?» Eine weitere spannende Frage stellte sie in den Raum: Material-Archiv spricht die Verantwortung der Menschen für ihre Umwelt an und unterstreicht die Verbindung zwischen Materialwissen und Materialfürsorge. Sollte diese politische Dimension der Faktizität des Materiellen expliziter gemacht werden?
Mareike Gast: «Auch haptische Eindrücke könnten digital vermittelt werden, müssen sie aber gar nicht»
«Eine digitale Plattform sollte vielmehr eine kritische, ehrliche und eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem Material, der Materialität, dem Kontext und der eigenen Wirkmächtigkeit und Verantwortung beim Nutzer provozieren und initiieren.» In ihrem Input-Vortrag ging es Mareike Gast um den Überblick zur Vielfalt von Materialien, um den Zugang zu niederschwelligem, fundiertem Wissen sowie gleichzeitig um das grosse Unwissen und die vielen offenen Fragen. Bestehendes ist laut ihr zu hinterfragen. Wir sollten uns ermächtigen und ermächtigt fühlen, Neues zu schaffen und dabei ganz selbstverständlich ein Mass an «Unschärfe» wagen.
Max Spielmann: «Materialien evozieren»
Max Spielmann: «Begriffspaare wie analog/digital, erkennen/erfahren oder die Vorstellung der Repräsentation des Physischen im Digitalen bringen uns nicht weiter im Verständnis Materialien zu denken.»
Laut Max Spielmann wissen wir zumeist gar nicht, wo wir uns gerade befinden - in Gedanken, im physischen Raum oder irgendwo in einem Datenspeicher. Materialien erfühlen wir an allen erdenklichen Orten. Er teilte Anhaltspunkte dafür, wie wir ein von begrifflichen Trennungen unabhängiges Verständnis von Material und dessen «Denken» entwickeln. Es gibt ein Kontinuum zwischen beiden Sphären und «so möchte ich mir ein Materialarchiv digital und analog ungetrennt vorstellen».
Anthon Astrom erklärte, dass die technische und technologische Grundlage von materialarchiv.ch zwar komplex scheint, jedoch unserer realen Welt entspricht.
«Für uns als Entwickler der Datenbank war der zentrale Ausgangspunkt, dass uns Materialien überall umgeben – wir arbeiten, wohnen und leben mit ihnen. In der physischen Welt erfahren und erleben wir die Kontexte von Materialien, aber eben: separiert». Er wagte einen Blick in die Anfänge der Bestrebungen, die Welt und ihr Wissen zu ordnen, tauchte in positivistische Ansätze des 20. Jahrhunderts ein, die vor dem Hintergrund neuer technologischer Möglichkeiten in «cross-connections» und «hyperlinks» aufgingen. «Die Daten von materialarchiv.ch haben wir grundlegend geordnet, systematisiert und miteinander verknüpft, also semantisch ins Gespräch gebracht und zwar einerseits untereinander «multidirectional» und andererseits offen für andere Systeme ähnlichen Inhalts.» Einen Ausblich wagend könnten sich Astrom / Zimmer & Tereszkiewicz vorstellen, den NutzerInnen das Wissen der Datenbank zukünftig direkt in ihre jeweilige reale Welt zu übersetzen. So schliesst sich der Kreis zu Ann-Sophie Lehmann, die anregte, beim Datenabruf aufzufordern, sich ein entsprechendes Material in der eigenen Umgebung zu suchen, um die Beschreibungen und Informationen der Datenbank sinnlich nachzuempfinden und zu testen.
Wir danken Yvonne Radecker, Geschäftsleiterin des Netzwerks Material-Archiv, für diese Zusammenfassung des Podiums!