Productions Stories Über die Entstehung der Sitterwerk-Edition «Alibi Alibi» von Sabrina Chou
Sabrina Chou, taiwanesisch-amerikanische Künstlerin aus Los Angeles, Kalifornien, lebt in London, wo sie Dozentin am Central Saint Martins ist. Sie hat kürzlich ihre Doktorarbeit mit dem Titel «Constitutions» an der Oxford University abgeschlossen. Darin präsentiert sie eine Reihe von Texten und Dokumentationen von Kunstwerken, die sich mit Arten der Bildung von sozialen Einrichtungen befassen. Sabrina Chous künstlerische Praxis entfaltet sich in physischen Objekten, räumlichen Installationen und Texten. Der weitere Kontext ihrer Arbeit und ihres Schreibens ist eine Untersuchung von Glaubensstrukturen und -systemen und wie wir unsere Umgebung wahrnehmen.
16.September 2024
Sabrina war von Juli bis Oktober 2022 Gast im Atelierhaus des Sitterwerk. Während ihrer Zeit in St.Gallen produzierte sie neben neuen Arbeiten die Edition Alibi Alibi in Zusammenarbeit mit der Stiftung Sitterwerk. Die Edition besteht aus zwei Elementen: eine holzgeschnitzte und dann in Bronze gegossene Salami und eine St.Galler Bratwurst, die im Direktausbrandverfahren ebenfalls in Bronze gegossen wurde.
Das folgende Video zeigt die Produktion der Edition Alibi Alibi, 2022.
Als wir uns zur Besprechung der Edition trafen, eröffnete Sabrina das Gespräch mit einem Zitat des Medienphilosophen Vilém Flusser: “We get closer to this opposition hyle/morphe or ‘matter’/ ‘form’ if we translate the word matter as ‘stuff.’ The word stuff is both a noun and a verb (‘to stuff’). The material world is that which is stuffed into forms; it gives them a filling. This is much more plausible than the image of wood being cut into forms. For it demonstrates that the world of stuff only comes about when it is stuffed into something. The French word for filling is farce; this makes it possible to claim that, from a theoretical perspective, everything material in the world, everything made up of stuff, is a farce.” Nach unserer eignen Übersetzung: "Wir kommen dem Gegensatz hyle/morphe oder 'Materie'/'Form' näher, wenn wir das Wort Materie im Englischen als 'stuff' (dt.: Stoff, Zeug) übersetzen. Das englische Word stuff ist sowohl ein Substantiv als auch ein Verb ('to stuff', dt.: stopfen). Die materielle Welt ist das, was in Formen gestopft ist; sie gibt ihnen eine Füllung. Das ist viel plausibler als das Bild vom Holz, das zu Formen geschnitzt wird. Es demonstriert nämlich, dass die Welt des Stoffs nur zustande kommt, wenn dieser in etwas hineingestopft wird. Das französische Wort für Füllung ist farce; dies ermöglicht die Behauptung, dass aus theoretischer Sicht alles Materielle in der Welt, alles aus Stoff Bestehende, eine Farce ist."
Dieses Zitat ist eng verknüpft mit Deiner Arbeit, weil es von zwei verschiedenen Arten spricht, eine Form zu finden, und auch vom semantischen Wert, der in jeder Form präsent ist.
Während ich über eine Zeit hinweg diese Serie von Würsten schnitzte, dachte ich über sie nach als Repräsentationen von abstrakten Prozessen, oder vielleicht noch nicht einmal als Repräsentationen. Vielmehr verkörpern sie diese abstrakten Prozesse, das Füllen von Würsten, und auf einer anderen Ebene die Fragmentierung und Teilung von Körpern. Ich verstehe das im Sinne von sozialen Formen, aber auch in Sinne von tatsächlichen Körpern.
Du befasst Dich mit der Wurst als Objekt in einem sehr buchstäblichen Sinne, die Wurst als physisches, gefülltes Objekt, und auch im metaphorischen Sinn, als Symbol für soziale Prozesse.
Ich denke durch die materielle Welt. Mich interessieren politische und soziale Formen. Besonders interessiert mich, darüber materiell nachzudenken, denn letztendlich leben wir in und sind wir konfrontiert mit den materiellen Gegebenheiten der Gegenwart.
Ich würde gern an das anknüpfen, was Du darüber sagtest, dass die Wurst eine Repräsentation von fragmentierten Körpern ist. Würdest Du sagen, dass Deine Arbeit vom Körper als einem Ort spricht, wo soziale und politische Themen verhandelt werden, und dass die Wurst eine Repräsentation dessen ist?
Was mich interessiert, ist der Körper als Manifestation und als Schauplatz für die Auseinandersetzung oder Gegenüberstellung von verschiedenen Kräften. In meiner Arbeit repräsentiert die Wurst nicht unbedingt all das, aber ich denke doch, dass sie für Reflektionen über diese Fragen offen ist. Du hast vorhin den semantischen Wert der Form erwähnt, den ich im Sinne der potenziellen Verschiebung von Bedeutungen verstehe. Jedes Mal, wenn in meinen Arbeiten eine Wurst entsteht oder in eine Anordnung mit anderen Elementen gesetzt wird, geht sie eine Reihe von Bezügen ein. Diese Bezüglichkeit ist es, die sie für diese anderen Konzepte zugänglich macht.
In der Edition präsentierst Du zwei verschiedene Formen, die jetzt in Bronze gegossen wurden: eine aus Holz geschnitzte Salami und eine echte Wurst, eine sogenannte St.Galler Bratwurst, die Du hier in St.Gallen in der Metzgerei Schmid gekauft hast. Beim Giessen wurden zwei verschiedene Techniken angewandt: das klassische Wachsausschmelzverfahren und das Direktausbrandverfahren. Ein Direktausbrand bedeutet, dass es kein Silikonnegativ gibt, sondern dass stattdessen ein echtes Objekt direkt in die Schamottmasse eingebettet und dann ausgebrannt wird, um die Negativform zu bilden. Könntest Du etwas über die Idee sagen, diese beiden Techniken zu kombinieren?
Als ich hier ankam und wir begannen, über das Editionsprojekt zu sprechen, dachte ich darüber nach, wie ich mir die Form einer Edition oder des Multiples zu eigen machen kann, anstatt sie einfach als gegeben hinzunehmen. Was ich spannend finde, ist, dass wir ein stabiles Element haben, nämlich die gebundene Salami, ein Guss im Wachsausschmelzverfahren von einer Holzskulptur, die ich speziell für die Edition geschnitzt habe, und ein unstabiles Element, das immer einzigartig ist, nämlich die gegrillte Bratwurst, die direkt ausgebrannt wird. Jede einzelne Bratwurst unterscheidet sich von den anderen.
Als wir das erste Mal darüber sprachen, diese zwei verschiedenen Arten von Würsten zu kombinieren, ging es hauptsächlich um die Unterschiede, die sich bezüglich Gewicht und Erscheinungsbild ergeben würden – eine ästhetische Instabilität, sozusagen. Aber der materielle Prozess an sich beinhaltet auch eine Instabilität. Der Direktausbrand stellte sich als viel komplizierter heraus, weil es dabei mehr unkontrollierbare Schritte gab.
Ja, wir dachten, wenn wir eine echte Wurst giessen, würde das die Produktion vereinfachen, aber das stimmte nicht ganz. Es gab viele Dinge im Prozess, die ich nicht kontrollieren konnte. Zum Beispiel konnte ich zwar bei den rohen Bratwürsten eine Auswahl der Form treffen, aber sobald man sie grillt, verändern sich die Formen – und dann nochmals, wenn sie gegossen werden. Die genaue Form kann nicht bestimmt werden.
Gute Würste zu finden, war ein ganz schöner Akt. Du hast während der Suche viele St.Galler Bratwürste gesehen – und gegessen. Die erste Überraschung war, dass eine kalt gewordene, gegrillte Bratwurst nicht mehr so appetitlich aussieht.
Wir haben verschiedene Herangehensweisen ausprobiert, um die echten Würste zu giessen. Eine bestand darin, gegrillte Bratwürste zu kaufen, die dann sofort schockgefroren werden. Das hat aber nicht funktioniert, weil sie im Gefrierprozess schrumpfen, und dann sehen sie nicht mehr so lecker aus. Also war der nächste Ansatz, rohe Bratwürste zu kaufen. Wir haben sie direkt in der Giesshalle gegrillt und dann sofort in die Schamotte eingebettet. Wenn die Schamotte erstarrt, ist die Bratwurst noch warm und hat noch keine feste Form. Sie in die Schamotte einzubetten, hilft dabei, die Form zu fixieren.
Und dann kommt der Moment, wo Du die Kontrolle aufgeben musst. Du kannst nicht in die Form hineinsehen, und nach dem Giessen packst Du das Werk aus und siehst, was für eine Form die Bronze in der Gussform angenommen hat. Wie war das für Dich?
Auf jeden Fall eine Überraschung. Bronze ist ein sehr besonderes Material. Es hat seine eigene Art von Lebendigkeit. Es ist so ungewiss, weil es von so vielen Dingen abhängt, wie der Form dessen, was man giesst, dem Volumen und der Temperatur, die sich auch verändert, weil wir natürlich mehr als nur ein Stück gegossen haben. Beim ersten ist die Bronze heisser und kühlt sich dann bei jedem Guss weiter ab. Das Tollste ist, dass die Farben so unterschiedlich sind.
Für die zwei verschiedenen Arten von Würsten hast Du zwei verschiedene Produktionsverfahren und auch zwei verschiedene Patinas ausgewählt.
Das war sehr interessant: Alle Bratwürste hatten so ein rötliches Aussehen, während die Salamis eher schwärzlich rauskamen. Die Patina hat also letztendlich jeweils diese Aspekte betont, die zufälligen Resultate des materiellen Prozesses.
In dieser Arbeit gibt es viele Übersetzungsprozesse. Es fängt beim Schnitzen der Salami in Holz an, das eine echte Salami imitiert, die dann in Bronze gegossen wird. Die echten Bratwürste hingegen, die roh waren als Du sie kauftest, wurden von Dir gegrillt, dann gegossen und als rohe Bronzeobjekte belassen – mit einer Rohgusspatina. Möchtest Du damit etwas unterstreichen?
Die Patina reflektiert die Unterschiede zwischen den beiden. Bei dem Projekt als Ganzem interessierten mich diese verschiedenen Momente der Übersetzung durch Material und Form, und die Patina fügt da eine weitere Schicht der Transformation hinzu.
All diese Veränderungen in Material und Form bringen auch eine Übersetzung mit sich, die mit Sprache zu tun hat, mit der genauen Beschreibung des aktuellen Zustands der Würste durch den Produktionsprozess hindurch. Es gab eine Menge Verwirrungen und Gelächter, wenn wir während des Projekts darüber sprachen.
Es liegt auch ein gewisser Humor darin, die bronzene, gegrillte Bratwurst mit einer Rohgusspatina zu belassen.
Humor ist ein starkes Element Deiner Arbeit. Spielst Du damit, dass manche Leute die Wurst als ein albernes, komisches Objekt ansehen könnten?
Bei einem Studiobesuch sprach ich einmal mit jemand über Humor in meiner Praxis, auch in Bezug auf die Körpersäfte, die auf Amerikanisch auch «humors» heissen, und dass die alle flüssig sind, ganz ähnlich wie sich die Dinge in meiner Arbeit bewegen. Indem ich Humor einsetze, schreibe ich Objekten keinen bestimmten Status oder Symbolismus zu, sondern Bedeutungen und Interpretationen und Erfahrungen können sich verschieben. Bei der Wurst denke ich natürlich schon, dass sie im ersten Moment möglicherweise lustig wirkt. Aber ich glaube – besonders, wenn die Würste mit anderen Elementen zusammen installiert werden – dass sie in Bezug zu diesen anderen Elementen und in Bezug zueinander transformiert werden und auch etwas anders werden können oder einen ontologischen Zustandswechsel erfahren können.
Wenn Du Deine Arbeiten präsentierst, arrangierst Du sie normalerweise in räumlichen Settings und zeigst nicht einfach nur ein einzelnes Objekt. Bei dieser Präsentationsweise ist es faszinierend, wie Du einen ganzen Raum füllen kannst mit nur ein paar kleinen Würsten und Wurstenden.
Für mich geht es immer darum, wie ich mir den Raum zu eigen machen und damit arbeiten kann, und auch darum, wie man in den Raum eingreifen und ihn in Frage stellen kann. Wie bei den meisten skulpturalen Arbeiten ist der Raum um das Objekt herum auch Teil der Arbeit.
Das bringt uns zum Titel der Edition.
Der Titel lautet Alibi Alibi. Etwas, worüber ich in den letzten paar Jahren nachgedacht habe, ist das Alibi der Form. In einem Text über Micha Zweifels Arbeit für einen Ausstellungskatalog (Ringgummimatte, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Luzern, Spector Books, 2021) habe ich geschrieben, dass das Alibi der Form eine Verlagerung oder Deformation ist, und dachte dabei daran, dass Dinge austauschbar sind. Ich denke, das ist ein Teil davon, dass ich untersuche, was soziale Formen sind oder sein können. Aber um auf die Edition zurückzukommen: Ich dachte da an die Tatsache, dass wir diese zwei Körper haben und dass sie beide von der gleichen Art oder Sorte sind, aber sie sind auch so unterschiedlich. Sie können zwar jeweils den Platz des anderen einnehmen, aber bis zu welchem Grad können sie das? Bis zu welchem Punkt können sie solche Arten, solche Körper repräsentieren? Und es ist auch eine Reflexion über den materiellen Prozess, wie sie gegossen werden: Wachsausschmelzverfahren oder «Bratwurstausbrennverfahren». Mit dem Alibi kommt die Idee einer Vertretung oder, bei einem Gerichtsverfahren, eines Beweises Deiner Anwesenheit.
Aber auch ein Beweis Deiner Abwesenheit – abwesend zu sein vom Tatort des Verbrechens. Es enthält beides.
Ja. Und über die Reflexion über den Gussprozess hinaus deuten die Würste auch auf etwas anderes.
Liefern die beiden gegossenen Würste auch ein Alibi für die Brutalität und Gewalt im Herstellungsprozess von Würsten, mit anderen Worten, für das Töten von Tieren?
Ich denke, die Gewalt ist implizit mit drin. Ich glaube, jede Abstraktion kann ein gewalttätiger Prozess sein, weil er so reduzierend ist und in manchen Fällen auch Differenzierung oder Spezifizität wegnehmen kann.
Und Fragmentierung kann auch ein gewalttätiger Prozess sein. Allerdings, obwohl ich denke, dass dieser Aspekt der Gewalt in der Arbeit präsent ist, suche ich auch nach Wegen, um die Gewalt auf den Kopf zu stellen.
Abstraktion als positive Geste zu denken?
Und darüber nachzudenken, wie Gewalt angewandt wird, zum Beispiel bei der Zerstückelung, wie der Raum der Fragmentierung generativ sein könnte oder ein kommunikatives Potenzial haben könnte.
Deine Skulpturen und installierten Arrangements haben einen ambigen Status, zwischen ästhetischer Proposition, funktionalem Gebrauch und absurder Adaptation, wie Du es beschreibst. Ich finde, es ist auch diese Ambiguität, die sie so stark macht.
Es geht auch um Vergeblichkeit. Das ist ein möglicher Effekt.
Bilder
1: Dead Deferral, 2020. Carved stone pine, pvc-coated wire, brushed steel. Photo: Katlin Deér. 2: Crush, 2021. Carved stone pine, string, found cushions. Photo: Katlin Deér. 3: Platonic Assembly, 2022. Carved stone pine, PVC-coated wire, found metal structure, found cardboard boxes. 4 and 5: Amendment (II and III), 2022. Carved stone pine, pine timber. 6 and 7: Sabrina Chou is putting the string on the carved Salami. Photos: Katlin Deér. 8: St. Galler Bratwurst. 9: Alibi Alibi, 2022. Bronze, string. Photo: Katlin Deér.